Was Liebe ist
auf die ganze Hand ausbreitete. Nach seiner Rückkehr aus dem Lager schrieb er an die Norddeutsche Metall-Berufsgenossenschaft, um prüfen zu lassen, ob ihm eine Unfallrente zustand. In dem Schreiben schildert er den ganzen Fall. Die Berufsgenossenschaft erkannte in der Angelegenheit aber keinen Bruch von Gesetzen. Als Verletzter, schrieb man ihm, habe er nicht das Recht, ihm zumutbare Eingriffe, die eine Hebung seiner Erwerbsfähigkeit gewährleisteten, zu verweigern. Parallel dazu entbrannte zwischen unserer Firma, der Verwaltung des Arbeitserziehungslagers und dem Krankenhaus, in dem man Tschanoff behandelt hatte, ein Streit um die Übernahme der sogenannten Kurkosten. Unsere Firmabetrachtete die Amputation als Folge von Tschanoffs Aufenthalt im Arbeitserziehungslager, wohingegen man dort eine Kostenübernahme mit dem Hinweis auf die Verletzung an der Drehbank ablehnte. Außerdem warf man Tschanoff die Verbreitung verleumderischer Äußerungen und kommunistische Umtriebe vor. Trotz der erfolgreichen medizinischen Behandlung nach seinem, wie es hieß, selbstverschuldeten Drehbankunfall sei er nicht zur Kooperation bereit. Ein Durchschlag dieses Schreibens ist das letzte Dokument, das die Personalakte von Tschanoff enthält. Danach folgt eine Austrittsbescheinigung aus unserer Firma. Als Kündigungsgrund wird angegeben: Von der Gestapo verfügt.«
Tante Lisa steht auf und verlässt das Zimmer. Er trinkt seinen Kaffee und wartet. Nach zehn Minuten kehrt sie zurück. Sie hat sich umgezogen, trägt jetzt Jeans und einen dicken blauen Pullover. »Lass uns ans Meer gehen«, sagt sie.
Kurz darauf durchqueren sie auf einem Sandweg die Dünen. Das blasse Grün des Strandhafers wird von Zäunen geschützt. Die Halme bewegen sich im Wind, der auf der Seeseite stetig, aber mild ist und sich in der blonden Pagenfrisur seiner Tante fängt.
»Ich wusste nicht, ob es wirklich eine Sehnenscheidenphlegmone war«, sagt sie. »Mein ganzes fachliches Wissen stammte damals aus einem Medizinlexikon, das ich mir mit sechzehn in einem Antiquariat gekauft hatte. Dein Großvater war außerdem der Meinung, dass ich mich in diese Dinge nicht einmischen sollte, die nur professionell beurteilt werden könnten.«
Sie erreichen den Strand. Die Ebbe hat Priele und Sandbänkefreigelegt. Weit draußen leuchten die Schaumkronen der Brandung. Darüber machen Möwen die Luft zur Achterbahn.
»Hätte irgendjemand etwas für Tschanoff tun können?«
Sie denkt lange darüber nach. »Man konnte sich im Dritten Reich nicht mit der Gestapo anlegen, schon gar nicht, wenn man Familie hatte. Später habe ich das verstanden, oder ich habe es mir zumindest klargemacht. Deine Großeltern waren keine Demokraten, aber sie waren auch keine Nazis. Als ich nach dem Krieg fortgegangen bin, wollte ich sie nicht verletzen, das war nicht meine Absicht. Ich war einundzwanzig und hatte die Trümmer einfach satt.« Sie macht eine kurze Pause und fügt dann hinzu: »Für sie war es Fahnenflucht. Dabei habe ich es mir nicht leichtgemacht. Als Deutsche wurde man damals in Holland nicht gerade mit offenen Armen empfangen.«
»Sie haben es nie akzeptiert?«
»Wohl nicht. Aber vielleicht hat es sie sogar noch stärker enttäuscht oder verletzt, dass mein Leben nicht ihren Vorstellungen entsprach. Ich habe keine Familie, keine Kinder.« Sie bleibt vor einem dunklen Streifen aus angespülten Algen stehen, hinter dem der Sand feucht wird. »Hast du Kinder?«
»Nein.«
»Das ist schade.«
» Du hast keine.«
»Das ist mein Leben. Du solltest welche haben.«
»Warum?«
»Du hast etwas weiterzugeben.«
Er nickt. »Eine sechsprozentige Wahrscheinlichkeit, an Epilepsie zu erkranken.«
»Das ist wenig im Vergleich zu dem, was du trotz dieser Krankheit erreicht hast. Bist du mit einer Frau zusammen?«
Er muss lächeln. »Wieso reden wir auf einmal über mich?«
»Weil mich dein Leben interessiert.«
»Es ist nicht so interessant.«
Sie lässt nicht locker: »Bist du, oder bist du nicht.«
»Nein … ja … nein …«
»Wer ist sie?«
»Eine Sängerin.«
»Wie lange kennst du sie?«
»Seit einer Woche.«
»Und da habt ihr euch schon wieder getrennt?«
»Es funktioniert nicht.«
»Du bist doch musikalisch.«
»Wenn es so einfach wäre.«
»Spielst du noch Klavier?«
»Nein … eigentlich nicht.«
Sie hält ihr Gesicht mit geschlossenen Augen in den Seewind und atmet tief ein. »Gehen wir schwimmen?«
»Wie bitte?«
»Danach legen wir uns zum Aufwärmen in
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