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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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nur – wenn du so willst – eine Entzündung der Sehnenscheide. Aber die Krankenschwester, du hast es gelesen, wollte von alldem sowieso nichts wissen. Sie war der Meinung, Tschanoff sei nur in die Krankenstation gekommen, um sich zu waschen und den fürchterlichen Gestank loszuwerden. Sie hat den Verband nicht einmal gewechselt und Tschanoff zurück zur Arbeit geschickt. Als er nach ein paar Tagen wiederkam, war sie nicht da, und ich habe mit meinem Lexikon die Phlegmone diagnostiziert. Für eine Behandlung war es da aber schon zu spät, weil die Gestapo ihn am nächsten Tag für anderthalb Monate ins Arbeitslager abtransportiert hat. Den Rest der Geschichte kennst du.«
    Der Strandhafer über ihnen raschelt leise im Seewind. In der Mulde, in der sie liegen, ist es fast warm. Er fröstelt trotzdem. Er erinnert sich daran, dass er als Kind manchmal den Wunsch gehabt hat, nach den Wolken zu greifen, um sich mit einer davon zuzudecken.
    »Was ist aus Tschanoff geworden?«
    »Ich weiß es nicht«, sagt sie und streicht Sand und Salz aus ihren Haaren, die noch feucht sind. Dann beendet sie das Thema, indem sie das andere wieder aufnimmt: »Liebst du sie?«
    Er denkt darüber nach.
    »Wenn ich das wüsste.«
    »Ich bin sicher keine gute Ratgeberin in diesen Dingen. Aber eines weiß ich: Man trifft nur sehr selten einen Menschen, mit dem zusammen zu sein anders ist als mit allen anderen.«
    »Anders vielleicht. Aber nicht unbedingt einfacher.«
    »Wenn du möchtest, dass die Liebe einfach ist, musst du dir einen Hund kaufen.«
    »Und was habe ich davon, wenn sie kompliziert ist?«
    Sie lächelt. »Eine sechsprozentige Chance auf Glück.«
    Wenn sie lächelt, werden ihre Augen fast zu Schlitzen und ihr Gesicht noch faltiger. Die Falten erzählen ein Leben, von dem er fast nichts weiß. Sie sollten sich häufiger sehen. Sie hat ja recht: Man trifft nur sehr selten einen Menschen, mit dem zusammen zu sein anders ist als mit allen anderen. Für ihn ist sie so ein Mensch. Sie hat ihr eigenes Leben gelebt. Sie lässt sich nicht von Zäunen aufhalten. Er ist froh, dass er sie besucht hat.

SECHZEHN
    AUF DEM RÜCKWEG von Noordwijk nach Amsterdam denkt er an seinen ersten großen Anfall vor zwanzig Jahren. Er sieht sich wieder in der Kirche sitzen, in der sein Vater am Altar steht, um zum zweiten Mal zu heiraten. Die Pfarrerin spricht, wie bei solchen Anlässen üblich, über die Liebe. Ohne die Liebe, zitiert sie eine geeignete Bibelstelle, sei alles Stückwerk, ohne die Liebe sei alles nichts. Die Worte verhallen. Er ist fünfzehn.
    Der Kirchenbau ist modern, ambitioniert. Die Sonne funkelt durch die schmalen, bunt verglasten Fenster, die sich kreuz und quer durch den Beton ziehen. Das Licht ist verwirrend. Alles ist verwirrend. Was ist Liebe? Diese Frau am Altar in ihrer schwarzen Soutane weiß es offenbar. Sie spricht über die Liebe wie über etwas allseits Bekanntes. So selbstverständlich wie über Geld. Mit der Liebe, verkündet sie, wird alles gut.
    Sylvia – die Frau, die in wenigen Minuten seine Stiefmutter werden soll – trägt ein weizengelbes Kleid und hört der Pfarrerin zu. Sie hat sich in den vergangenen Monaten alle Mühe gegeben, eine Beziehung zu ihm aufzubauen – seine Liebe zu gewinnen. Sie arbeitet in einer Werbeagentur alsKundenberaterin. Sie hat von Anfang an darauf bestanden, dass er sie duzt und Sylvia nennt.
    Das Licht in der Kirche ist unruhig, flammt mal grell auf, um im nächsten Moment wieder zu verlöschen. Er schließt die Augen. Er fühlt sich in einer Weise unwohl, die er nicht kennt. Er hat einen säuerlichen Geschmack auf der Zunge, und ein untergründiges Angstgefühl steigt in ihm auf. Die Ansprache der Pfarrerin dauert an. Allzu oft, so sagt sie, ignorierten wir die Liebe und setzten uns über sie hinweg.
    Plötzlich erinnert er sich an seine Mutter und daran, wie sie ihn vor neun Jahren verlassen hat. Er glaubt die Umarmung bei ihrem Abschied noch zu spüren. Vielleicht waren ihre verzweifelten Tränen damals ein Ausdruck ihrer Liebe – einer Liebe, die sie ignoriert und über die sie sich hinweggesetzt hat. Deswegen konnten die Dinge nicht gut werden.
    Nach der Ansprache huscht ein eigens engagierter Fotograf hinter den Altar, um das Paar im entscheidenden Moment von vorne ablichten zu können. Er hebt seine Kamera mit dem großen seitlich angeschraubten Blitzgerät ans Auge und wartete ab, bis die Pfarrerin die Ja-Wort-Formel zu Ende gesprochen hat.
    Das Gefühl, von seiner

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