Was Liebe ist
die Dünen.«
»Es ist Anfang November«, sagt er.
»Der Oktober war warm. Die Sonne ist noch im Wasser.«
Sie streift sich den dicken blauen Pullover über den Kopf. Sie haben weder Badesachen noch Handtuch dabei. Sie zieht sich bis auf die Unterhose aus. Er ist es nicht gewohnt, einenalten Menschen nackt zu sehen, und kann mit ihrer Blöße nicht besonders gut umgehen. Sie ist schlank, aber ihre Haut ist faltig und stumpf. Muskeln und Knochen sind nicht mehr fest aneinandergebunden. Ihre Brüste sind eingefallen und leer. Sie scheint nicht zu frieren. Sie gehört einer Generation an, die es sich nicht leisten konnte, zimperlich zu sein.
»Und?«, sagt sie.
»Ich warte hier.«
Sie geht durch den feuchten gerippten Sand. Ihre Haare wehen ihr um den Kopf, ihre Arme greifen entschlossen aus. Bis das Meer ihr erlaubt zu schwimmen, ist sie mehr als hundert Meter von ihm entfernt. Die Brandung muss höher sein, als es vom Strand aus den Anschein hat. Es ist nicht leicht, sie im Auge zu behalten. Irgendwann sucht er Wellenkämme und Schaumkronen vergeblich nach ihr ab. Er fragt sich, ob das Meer im Herbst gefährlich ist. Aber dann denkt er: Sie lebt seit Jahrzehnten hier. Sie weiß, was sie tut.
In den Lachen und Prielen, die die Ebbe zurückgelassen hat, spiegeln sich die Wolken. Das Rauschen der Brandung erfüllt die Luft, überlagert vom an- und abschwellenden Geschrei der Möwen. Hier und da liegen die glasigen Hauben von Quallen im Sand. Er überlegt, was er tun soll. Er kann nur warten.
Er schwimmt grundsätzlich nicht. Ertrinken gehört zu den häufigsten krankheitsbedingten Todesursachen bei Epileptikern. Ein Anfall unterdrückt alle Überlebensreflexe, Wasser dringt ungehindert in die Lunge. Außerdem unterbleiben die Bewegungen, mit denen Ertrinkende üblicherweise auf sich aufmerksam machen. Es kann geschehen, dass man ineinem Schwimmbad zwischen allen Badegästen ertrinkt, ohne dass jemand etwas davon mitbekommt.
Nach zehn Jahren ohne Anfall könnte er wieder schwimmen. Aber der Instinkt, Wasser zu meiden, sitzt tief. Trotzdem gefällt es ihm, am Meer zu sein. Er mag den Geruch, er mag die Weite. Es wäre schön, mit Zoe am Meer zu sein, aber dazu wird es nicht kommen. Das schmerzt ihn. Sie waren so nah dran.
Er sieht auf die Uhr. Tante Lisa ist seit zehn Minuten im Wasser. Sollte das nicht genug sein? Sie ist schlank und nicht sehr groß. Ab wann besteht die Gefahr einer Unterkühlung? Er weiß es nicht. Die Sonne ist noch im Wasser – aber was bedeutet das? Achtzehn Grad? Fünfzehn? Oder nur zwölf oder elf ? Er denkt noch einmal: Sie weiß, was sie tut.
Oder hat er mit seinen Fragen etwas aufgewühlt, das besser unangetastet geblieben wäre? Wirft sie sich den Bruch mit der Familie doch vor? Sie war jung, und im Alter beurteilt man viele Dinge anders. Anstatt mit allen den fünfundneunzigsten Geburtstag ihrer Mutter zu feiern, lebt sie hier in Holland ein isoliertes Leben. War es das wert?
Die Zeit vergeht – zwanzig Minuten. Sollte er etwas unternehmen? Was kann er tun? Es gibt keinen Bademeister, den er alarmieren könnte. Gibt es so etwas wie eine Küstenwacht? Wahrscheinlich schon. Doch wie verständigt man sie?
Er zieht Mantel, Schuhe und Strümpfe aus und schlägt die Hosenbeine um. Mit jedem Schritt, den er auf das Meer zugeht, ohne seine Tante in den Schaumkronen der Wellen zu entdecken, wächst seine Sorge um sie. Das Rauschen der Brandung wird lauter, je näher er den Wellen kommt. DiePfützen und Priele, durch die er geht, beantworten seine Frage nach der Temperatur des Wassers: Es ist beißend kalt. Wie konnte Tante Lisa so ohne jedes Zögern in dieses Wasser gehen? Er hat das Gefühl, das wütende Geschrei der Möwen gilt ihm.
Eine Welle rollt auf ihn zu, zersetzt sich auf dem flachen Sand in Abermillionen von weißen Bläschen, die seine Füße kribbelnd überspülen. Er unterdrückt den Impuls zurückzuweichen. Die nächste Welle erreicht seine Knöchel. Er starrt auf das Wasser. Gischt weht in sein Gesicht. Er will nicht wahrhaben, dass Tante Lisa nirgendwo zu sehen ist.
Der Gedanke, nur weil er plötzlich bei ihr aufgetaucht ist, könnte sie beschlossen haben, sich umzubringen, erscheint ihm grotesk. Es muss etwas anderes geschehen sein, etwas, das simpler und offenkundiger ist, aber nicht weniger verhängnisvoll. Vielleicht hat ihr Herz nicht mitgespielt. Sie ist über siebzig. Alte Menschen sind unvernünftig wie Kinder, wenn es darum geht, etwas zu tun, was sie immer
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