Was Liebe ist
Es geht dabei um die Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter – vielleicht hast du davon gehört. Zur Zeit wird in Deutschland viel über das Thema diskutiert. Ich wollte mir ein Bild von der Realität in den Kriegsjahren machen und bin im Firmenarchiv auf Dokumente aus der Krankenstation gestoßen. Diagnosen, Unfallberichte. Dabei habe ich gesehen, dass du damals eine Zeitlang Krankmeldungen aufgenommen hast.«
Sie hat unbewegt zugehört. Schließlich sagt sie: »Und du denkst, ich kann dir sagen, wie es war?«
»Kannst du das?«
»Was willst du denn wissen?«
»Ich bin bei meiner Suche im Archiv auch auf die Personalakten der Zwangsarbeiter gestoßen. Sie wurden mit Werksausweis und Passbild in einer Kartei geführt. Bei einem der Arbeiter fehlt das Bild aber. Das hat mich irritiert, weil es gerade zu diesem Fall eine umfangreiche Krankenakte gibt.«
»Roland, das ist mehr als fünfzig Jahre her.«
»Ja natürlich. Ich weiß. Aber ich glaube, es ist ein Fall, der ein sehr deutliches Licht darauf wirft, wie bei uns mit Zwangsarbeitern umgegangen wurde. Meine Haltung in der Entschädigungsfrage hängt davon nicht ab, aber vielleicht habe ich mit diesem Fall die Möglichkeit, den Vorstand davon zu überzeugen, dass wir eine moralische Verpflichtung haben, uns an der Entschädigung zu beteiligen.«
Sie schweigt. Ihre Hände fallen ihm auf, als sie die Kaffeetasse zum Mund führt. Überrascht stellt er fest, dass ihre Fingernägel zartrosa lackiert sind.
»Eine umfangreiche Krankenakte, sagst du?«
Er nickt. »Ja, ich habe eine Mappe mit Kopien dabei. Vielleicht erinnerst du dich ja doch noch daran.«
Er reicht ihr die Akte. Sie nimmt sie nachdenklich entgegen, blättert und sagt: »Ich wurde mit neunzehn als Kriegshilfsdienstmaid – so nannte sich das damals – zu einem Arbeitseinsatz verpflichtet. Ich sollte ein paar Monate lang bei den Berliner Verkehrsbetrieben als Schaffnerin Fahrscheinekontrollieren. Aber das wollte ich nicht, und mein Vater, dein Großvater, hat durchgesetzt, dass ich den Hilfsdienst in unserem Betrieb in der Krankenstation ableisten konnte. Das war im Frühjahr und Sommer 1943.«
Er nickt. »Kurz nach der Deportation der jüdischen Mitarbeiter im Februar 1943. Wenn du willst, erzähle ich dir, was ich aus den Akten weiß. Der Firma fehlten insbesondere Techniker und Ingenieure, weil wir der Wehrmacht ein Minensuchgerät zugesagt hatten. Der Liefertermin war gefährdet, und uns drohte eine Vertragsstrafe. In dieser Situation wandte sich dein Vater an die Deutsche Arbeitsfront – die Organisation, die die Verschleppung und den Einsatz der Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten in Osteuropa organisierte. Sie schickten ihm Josif Tschanoff, einen jungen Absolventen der Technischen Universität von Kursk. Der Werksschutz – nichts anderes als der verlängerte Arm der Gestapo im Betrieb – protestierte allerdings gegen Tschanoffs Einsatz in der technischen Entwicklungsabteilung. Arbeitern aus dem Osten war durch spezielle Erlasse jeder Kontakt mit Deutschen verboten. Wegen der militärischen Dringlichkeit wurde der Einsatz dennoch genehmigt, allerdings bestand die Gestapo darauf, dass Tschanoff danach wieder in den üblichen Ostarbeitereinsatz zurückgeführt werden sollte, was dann auch geschah. Man versetzte ihn aus der Entwicklungsabteilung ohne jede handwerkliche Einweisung an die Drehbänke. Dort zog er sich schon bald eine schwere Handverletzung zu, die aber nicht behandelt wurde, weil die Schwester in der Krankenstube auf der Einweisung ›Arbeitsverweigerung‹ diagnostizierte.«
»Das hast du alles aus diesen Akten?«, sagt sie und legt die Mappe auf den Tisch.
»Sie sind vollständig«, nickt er. »Es ist alles noch da: Die Anfrage an die Deutsche Arbeitsfront, die Korrespondenz zwischen Gestapo und Werksleitung, Tschanoffs Krankenakte. Aus der geht übrigens auch hervor, dass bei seiner Handverletzung doch jemand genauer hingesehen haben muss. Unter die Diagnose ›Arbeitsverweigerung‹ hat jemand ›hohes Fieber, akute Sehnenscheidenphlegmone‹ geschrieben.«
»Ach, ja?«
»Ja – aber vergebens. Als Arbeitsverweigerer wurde Tschanoff zu fünfundvierzig Tagen Haft in einem Arbeitserziehungslager der Gestapo verurteilt. Dort führte die Phlegmone zur Ausfaulung einer Sehne. Tschanoff musste unterschreiben, dass er mit der Amputation seines Zeigefingers einverstanden war, um das Fortschreiten der Entzündung zu stoppen und zu verhindern, dass sie sich
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