Was Liebe ist
Kilometer bis nach Noordwijk. Dort wohnt seine Tante Lisa. Jedenfalls war es vor zwanzig Jahren so.
Er hat den Wagen in Schiphol angemietet. Da er nur selten fährt, muss er sich konzentrieren, um bei den vielenRichtungshinweisen und Abzweigungen am Flughafen jedes Mal die richtige Spur zu erwischen. Beim Unterschreiben des Mietwagenvertrags ist ihm seine Krankheit für einen Moment durch den Kopf gegangen.
Als er auf der Autobahn Richtung Den Haag und Rotterdam ist, entspannt er sich. Die A4 ist ein schnurgerades fünfspuriges Asphaltband, das keine gesteigerte Aufmerksamkeit erfordert. Man muss nur mitfließen im Strom. Das Land ist flach, der Himmel hell und weit. Wolken verteilen sich darin wie Puzzlesteine, die darauf warten, zusammengesetzt zu werden.
Sein Telefon klingelt. Er hat mit dem Anruf gerechnet. Diesmal nimmt er ihn entgegen.
»Kannst du mir irgendwie erklären, was das soll!?«
Natürlich ist Rolf empört.
Er bleibt ruhig und sagt: »Wir brauchen das nicht zu diskutieren. Weder du noch die Banken noch sonst jemand im Vorstand unterstützt es, dass wir in den Zwangsarbeiterfonds einzahlen. Dass ich anderer Meinung bin, wird daran nichts ändern. Ich bilde mir nicht ein, den gesamten Vorstand inklusive unserer Geldgeber umstimmen zu können. Ich sehe das nüchtern und nehme es nicht persönlich. Allerdings habe ich nicht vor, auf verlorenem Posten zu kämpfen. Das kann niemand von mir verlangen. Entschuldige mich also heute Nachmittag glaubwürdig und nimm meine Position als Minderheitsmeinung zu Protokoll. Was die Kapitalerhöhung angeht, übertrage ich dir mein Stimmrecht. In dem Punkt haben wir keinen Konflikt.«
Damit ist alles gesagt, aber Rolf ist dennoch nicht zufrieden.»Wie du willst«, sagt er. »Aber kannst du mir nicht trotzdem sagen, was los ist?«
»Mach dir keine Gedanken. Es ist alles in Ordnung.«
In Noordwijk muss er sich durchfragen. Er fährt durch ein Wohngebiet mit kleinen, hellrot geziegelten Reihenhäusern. Das Haus, das er sucht, ist das letzte in einer gepflasterten Straße mit gepflegten Vorgärten. Es ist klein, holländisch. Wenn Tante Lisa ihr Familienerbe nicht ausgeschlagen hätte, könnte sie in einem Haus wohnen, das doppelt oder dreimal so groß wäre.
Die Haustür öffnet sich. Sie haben sich seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen – zuletzt bei der zweiten Hochzeit seines Vaters. Sie braucht Zeit, um ihn zu erkennen. »Roland …?«
»Entschuldige, ich hätte mich ankündigen sollen. Ich habe beruflich in Amsterdam zu tun.«
Sie sieht noch fast so aus, wie er sie in Erinnerung hat: ein schmales Gesicht mit grünlich-blauen, tief liegenden Augen. Ihre Haare sind blond gefärbt. Das macht sie jünger. Sie bittet ihn mit ihrer ruhigen Art hinein. Er folgt ihr durch einen kurzen Flur in ein Wohnzimmer mit einem großen Fenster zur Straße und einem zum Garten hin. Die Einrichtung stammt aus den sechziger Jahren. Alles ist sauber, aufgeräumt, aber karg und bescheiden.
Sie verschwindet in der Küche. Nach ein paar Minuten kommt sie mit einem Tablett zurück, darauf Tassen, Kaffeekanne, Milch und Zucker. Sie verteilt alles auf dem Tisch und schenkt Kaffee ein. Ihre Bewegungen lassen keine Unsicherheit, kein Alter erkennen. Sie ist schlank und drahtig. Als junge Frau muss sie sehr attraktiv gewesen sein. Auf einebestimmte Weise ist sie es immer noch. Sie mustert ihn. »Du siehst sehr gut aus. Du siehst aus wie dein Grootvader … Großvater, wach und selbstsicher.«
»Ich weiß nicht, ob ich selbstsicher bin.«
»Du hast dich nicht unterkriegen lassen.«
Sie ist Ärztin, sie weiß von seiner Krankheit. Sie war bei seinem ersten Grand-mal-Anfall dabei. Als er danach wieder zu Bewusstsein kam, kniete sie neben ihm. Sie drehte ihn behutsam auf die Seite, damit der Speichel abfließen konnte. Er hatte rasende Kopfschmerzen. Er wusste nicht, was mit ihm geschehen war. Ihre ruhige, sichere Art half ihm.
»Ich nehme Topamax und bin anfallsfrei.«
»Ich freue mich, dass es dir gut geht.«
Sie schweigen eine Weile. An den Wänden hängen ein paar gerahmte Landschaftsbilder in Acryl. Flachsfelder mit schmalen Entwässerungskanälen und Dünen unter dem weitgespannten Himmel. Das Meer ist nah, höchstens zwei Kilometer. Vielleicht sollte er hinfahren.
»Ich bin aus einem bestimmten Grund hier«, sagt er, »aber wir müssen nicht darüber reden, wenn du nicht willst. Ich befasse mich mit der Rolle unserer Firma in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft.
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