Was Liebe ist
nutzlos – er steht nur da – auf ihn herabprasselt, sehnt er sich danach, sie wäre da. Wie gestern, wie vorgestern.
Er wird sich bei ihr entschuldigen. Natürlich wird er das. Was er gesagt hat, war nicht fair. Zoe hat jahrelang mit Piet zusammengelebt, das muss er respektieren. Er kann nicht von ihr verlangen, dass sie Piet von heute auf morgen vergisst. Er darf sie nicht unter Druck setzen. Sie muss selbst entscheiden, was sie will. Wenn sie einen Rat braucht, ist er der Letzte, der ihn ihr geben kann.
Zehn Minuten später verlässt er das Hotel. Die frische, leichte Herbstluft auf der Straße stimmt ihn optimistisch. Auf einer Brücke ist ein Heringsstand, von dem ein Meeresgeruch ausgeht. Ein Lastkahn mit einem rauchenden Schipper schiebt sich unter der Brücke durch. Fahrräder glitzern im Sonnenlicht vorüber. Tauben fliegen auf. Amsterdam gefällt ihm: das Fahrradleben, das Grachtenleben. Das Ik-hou-van-jou -Leben.
In der Meulen-Apotheke erwartet man ihn schon. Man händigt ihm die zurechtgelegte Schachtel Topamax aus, er bezahlt. Auf dem Rückweg zum Hotel setzt er sich auf eine Bank. Von einem alten, wie gedrechselt aussehenden Laternenpfahl her nähern sich ihm Tauben. Er braucht schon lange kein Wasser mehr, um eine Topamax zu schlucken. Er drückt die Tablette aus der Kapsel und befördert sie mit einem kleinen gezielten Schwung in seinen Mund.
Wie ein Junkie. Er ist in Amsterdam und schluckt auf offener Straße Tabletten. Er muss darüber lächeln. Es dürfte in seiner Generation kaum jemanden geben, der über so wenig Drogenerfahrung verfügt wie er – genau genommen über gar keine. Er steckt die Topamaxschachtel in die Manteltasche.
Auf dem Weg zum Hotel kommt eine Frau auf ihn zu. Sie trägt eine weiße Lederjacke mit Pelzbesatz, darunter einen kurzen, rot glänzenden Lackrock und hohe schwarze Stiefel. Sie ist nicht sicher auf den Beinen und schwankt leicht. Zuerst will er ihr reflexhaft ausweichen, aber dann begreift er, dass sie stürzen könnte. Er streckt die Arme aus, um sie aufzufangen. Sie fällt gegen ihn, und plötzlich sind sich ihre Gesichter ganz nah.
Sie ist jung, leer, elend – gezeichnet vom Leben, das sie, so wie sie gekleidet ist, offensichtlich führt. Das Blond ihrer Haare ist nicht echt, auf ihren Wimpern glänzt verwischte Tusche. Sie riecht nach Alkohol, den Resten eines schweren Dufts und Schweiß, der wohl nicht nur ihr eigener ist.
Sie sagt: »Ben je eenzaam?«
»Entschuldigung«, sagt er, obwohl er sich ziemlich sicher ist, sie richtig verstanden zu haben.
»Deutsch?«, sagt sie. »Bist du Deutscher?«
Er nickt. »Sie sollten sich setzen.«
Sie hält sich an ihm fest.
»Hast du ein bisschen Zeit?«
»Da ist eine Bank.«
»Hundertfünfzig Gulden. Für dich hundert …«
»Ich helfe Ihnen.«
Sie lässt ihn nicht los und starrt mit glasigen Augen in sein Gesicht. »Siebzig … Fünfzig … Du bereust es nicht …«
Er befreit sich aus der Umklammerung und stützt sie.
»Ich kann einen Arzt rufen.«
»Was ist los mit dir?«
»Setzen Sie sich.«
Er schiebt sie sanft Richtung Bank. Sie lässt es geschehen. Er fragt sich, wie alt sie sein mag. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig? Er kann nichts für sie tun. Er könnte ihr Geld geben, ohne etwas dafür zu verlangen, ohne Fragen zu stellen. Sie zittert leicht. Sie braucht das Geld.
»Verschwinde«, sagt sie und starrt auf die Gracht. Auf einmal ist es, als hätten die Sonnenreflexe auf dem Wasser sie hypnotisiert. Er gibt ihr nichts. Die Tauben suchen das Pflaster nach Essbarem ab und lassen sich von der drogensüchtigen Prostituierten nicht stören. Er wendet sich ab und geht. Sein Optimismus ist verflogen.
Als er ins Hotelzimmer kommt, sind Zoes Sachen weg. Eigentlich hat er damit gerechnet. Sie hat sich entschieden: für Piet und gegen ihn. Oder auch nicht für Piet, aber auf jeden Fall gegen ihn. Es ist vernünftig. Sie würden sich nur weiter verletzen. Glück funktioniert nicht. Es schnürt ihm für einen Moment die Kehle zu. So sehr, dass er sich fragt, ob diese Prostituierte nicht recht hatte. Er ist einsam.
Das hier hätte er schon längst tun sollen. Er öffnet die Fahrertür des Leihwagens, eines dunkelblauen Renaults mit Automatikgetriebe, und setzt sich hinters Steuer. Auf den Beifahrersitz legt er eine aufgeklappte Straßenkarte von den Niederlanden. Er muss der A4 südlich bis Leimuiden folgen und dort auf die A44 nach Sassenheim wechseln. Von Sassenheim sind es nur noch wenige
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