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Was Liebe ist

Was Liebe ist

Titel: Was Liebe ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Woelk
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schon getan haben. Sie hören nicht freiwillig damit auf.
    Das Wasser an seinen Beinen steigt höher. Die Flut kommt herein. Er geht weiter, bis die Wellen an seine Hüften steigen. Er erreicht die Stelle, an der Tante Lisa eingetaucht sein muss. Er steht einfach nur da. Die Brandung ist laut. Eine Unterströmung zerrt an seinen Füßen. Er kann nichts tun. Er hat vergessen, wie schwer und mächtig Wellen sind.
    Er dreht sich um. Es kommt ihm vor, als sei das Meer um zehn oder fünfzehn Meter vorgerückt, seit er hinein gewatet ist. Er setzt sich in Bewegung. Der sandige Boden unter seinen Füßen ist weich und gibt bei jedem Schritt nach. Er hatdas Gefühl, nicht voranzukommen. Er ist langsamer als die Flut. Sein Puls beschleunigt sich. Er hat sich für besonnener gehalten.
    Er erreicht die flachen Randzonen des Wassers mit dem festeren, noch nicht überspülten Sand. Er atmet durch. Sein Herz rast beinahe. Er tastet nach seinem Telefon, aber es ist im Mantel, der bei den Dünen liegt. Was wird als Nächstes geschehen? Wird man das Meer mit einem Hubschrauber absuchen? Warum ist er hergekommen?
    Eine kleine Gestalt, weit links, kaum zu erkennen, hell und weiß wie die Dünen in der Sonne, winkt. Er schirmt seine Augen mit der Hand gegen das Licht ab. Er winkt zurück. Seine Hose ist nass bis zur Gürtellinie.
    »Was ist passiert?«, sagt Tante Lisa, als er sie erreicht.
    »Ich wollte dich aus dem Wasser ziehen und wiederbeleben«, sagt er.
    »Du hättest dir keine Sorgen zu machen brauchen. Bei Flut gibt es eine Strömung landeinwärts, die ein paar hundert Meter weiter auf den Strand trifft. Eigentlich muss man nur hinausschwimmen und sich ein bisschen treiben lassen.«
    »Gut, dass ich das jetzt auch weiß.«
    »Es tut mir leid, wenn ich dich beunruhigt habe.«
    »Schon gut.«
    Sie zieht sich die nasse Unterhose aus. Er wendet sich ab. Seine Hose klebt schwer und feucht an seinen Beinen. Sie trocknet sich mit dem Unterhemd ab, dann zieht sie sich an. Zuletzt schließt sie den Reißverschluss am Rollkragen ihres dunkelblauen Wollpullovers und sagt: »Ich kenne eine Stelle in den Dünen. Da können wir uns aufwärmen.«
    Die Dünen sind eingezäunt. Zwischen rohen, silbergrauen Holzpfählen sind Drähte gespannt, manche davon gerissen. Tante Lisa klettert über den Zaun. Mit fünfundsiebzig muss man sich nicht mehr an alle Regeln halten. Dafür ist die Lebensspanne, die einem vielleicht nur noch bleibt, zu kurz. Sie führt ihn zu einer sonnigen windgeschützten Sandmulde. Er breitet seinen Mantel aus, und sie legen sich nebeneinander auf den Rücken. Er schließt die Augen. Irgendwann sagt sie: »Ich werde die Toiletten nie vergessen.«
    »Die Toiletten?«
    »Ich weiß nicht, ob Toiletten das angemessene Wort ist. Für Russen, Ukrainer und Polen gab es über einer Grube Verschläge, auf denen ›Ost‹ oder ›Dla Polakov‹ stand – ›für Polen‹. Es stank dort fürchterlich und wimmelte vor Fliegen. Die Verschläge hatten Halbtüren, die ursprünglich bis zum Boden reichten. Aber dann kam man auf die Idee, dass es hinter diesen Türen zu sexuellen Aktivitäten kommen könnte, und man machte es anders. Die Halbtüren wurden ab- und ummontiert und deckten danach nicht mehr den unteren Teil der Verschläge ab, sondern den oberen.«
    »Wer denkt sich so etwas aus?«
    »Um nicht gesehen zu werden«, fährt sie fort, »setzten sich die Männer danach so weit nach hinten wie möglich, und dabei fiel ihnen manchmal etwas aus der Hosentasche – ihr Werksausweis zum Beispiel, den sie immer bei sich tragen mussten, oder ihr Portemonnaie. Dann blieb ihnen nichts anderes übrig, als in die Grube zu steigen und die Sachen aus den Exkrementen herauszufischen.« Sie macht eine kurze Pause und fährt dann fort: »Tschanoff hatte nach dem Drehbank-Unfalleine tiefe Wunde in seinem Zeigefinger. Damit er weiterarbeiten konnte, wurde der Finger verbunden, und als er abends in die Krankenstation kam, stank der Verband ganz fürchterlich. Er hat mir erzählt, was geschehen war. Einem seiner Kameraden war auf der Toilette die Brille in die Grube gefallen. Und weil er ohne Brille nichts sehen konnte, hat er sie beim Suchen immer nur tiefer in die Exkremente gerührt. Dann kam Tschanoff dazu und hat ihm geholfen. Es ist ihm gelungen, die Brille wieder herauszufischen, aber du kannst dir vorstellen, wie sein Verband danach ausgesehen hat. Es war ein Wunder, dass er sich bei der Suche nach der Brille keine Sepsis zugezogen hat, sondern

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