Was Liebe ist
Mutter umarmt zu werden, wird immer erdrückender. Sein Hals schnürt sich zusammen, er glaubt, ersticken zu müssen. Das Letzte, woran er sich später erinnert, ist das grelle Licht des Blitzes, das alles überflutet.
Er reiht sich in den abendlich gleichmäßig fließenden Verkehr auf der Autobahn ein. Es ist dunkel, mondlos, der Himmelhat sich bezogen. Er sieht auf die Uhr. Zeit für seine Topamax.
Als er damals, nach seinem Anfall, wieder zu sich kam, kümmerte sich Tante Lisa um ihn. Er wusste nicht, wieso er auf dem Boden der Kirche lag, er wusste nicht, was geschehen war. Er hatte sich äußerlich nicht verletzt, aber sein Kopf schmerzte wie in einem riesigen Schraubstock. Er lag auf der Seite, und aus seinem Mund floss warmer Speichel. Seine Hose klebte an seinen Schenkeln, er hatte eingenässt.
Er hörte die Stimme seines Vaters, der fragte, ob es nicht besser sei, einen Krankenwagen kommen zu lassen? Tante Lisa sagte: Nein, das sei nicht notwendig. Die Stimmen drangen wie aus dichtem Nebel zu ihm. Tante Lisa drückte seine Hand. Das nahm ihm ein wenig die Angst.
Lange her. Er biegt auf einen Parkplatz und lässt den Wagen ausrollen. Er steigt aus und nimmt seinen Mantel vom Rücksitz. Die Topamax-Schachtel ist weder in der rechten noch in der linken Tasche. Das irritiert ihn. Im Allgemeinen hat er ein gutes Gedächtnis dafür, wo er sein Medikament aufbewahrt.
Er bleibt ruhig. Kann es sein, dass die Schachtel aus der Tasche gefallen ist, als er den Mantel am Meer ausgezogen hat? Er kann das nicht ausschließen, aber er glaubt es nicht. Eine Topamaxschachtel im Sand wäre Tante Lisa, einer Ärztin, beim Anziehen aufgefallen.
Das monotone Rauschen der Autobahn erfüllt die Novemberluft. Es riecht nach Abgasen und Staub. Er sucht den Wagen ab: den hinteren Fußraum, die Nische unter den Vordersitzen – erfolglos. Er geht den Tag in Gedanken nocheinmal durch: Nach dem Besuch der Apotheke hat er den Mantel nicht mehr abgelegt, außer im Wagen und bei Tante Lisa. Oder vergisst er ein Detail? Blendet er etwas aus?
So ist es. Die Prostituierte an der Gracht fällt ihm ein. Auf einmal begreift er, was geschehen ist. Ihr Interesse hat nicht ihm gegolten, sondern dem Medikament, das sie ihn hat einnehmen sehen. In der Hoffnung, mit etwas Glück an ein Schmerzmittel oder Sedativum zu kommen, das sie über die nächsten Stunden bringt, ist sie losgetorkelt. Deswegen hat sie ihn angesprochen, deswegen hat sie sich an ihn geklammert. Nicht um ihn als Kunden zu gewinnen, sondern – so banal, wie es ist – um ihn zu bestehlen.
Er setzt sich in den Wagen und schließt die Tür. So muss es gewesen sein – so war es. Ein Diebstahl – und noch dazu ein völlig nutzloser. Antiepileptika haben keine psychogene Wirkung. Sie erzeugen kein Hochgefühl, keinen Rausch – sie dämpfen. Sie nützen einem Drogenabhängigen absolut nichts.
Für ihn ist mit dem Absinken des Medikamentenspiegels im Blut allerdings ein ernstes Risiko verbunden. Sowohl kranke als auch gesunde Nervenzellen reagieren auf die nachlassende medikamentöse Dämpfung mit übermäßiger Erregung. Im äußersten Fall droht ein Status epilepticus, ein dauerhafter Anfallszustand. Es kommt zu einer Übersäuerung des Gehirns und starkem Fieber. Der Zustand ist lebensgefährlich.
Er versucht, die Dinge nüchtern zu betrachten. In einer halben Stunde ist er in Amsterdam. An der Hotelrezeption wird er sich nach einem Krankenhaus erkundigen. Dort kanner – gleichsam als Ausweis oder Muster – die alte Schachtel Topamax vorlegen, die er gestern aufgebraucht hat und die noch im Hotel liegt. Da bei Antiepileptika keine Missbrauchsgefahr besteht, wird man ihm helfen, das nimmt er mit einiger Sicherheit an. Einen international standardisierten und anerkannten Epilepsieausweis gibt es nicht.
In Amsterdam parkt er den Wagen – so hat man es ihm morgens an der Rezeption empfohlen – im Kloveniersburgwal. Von dort erreicht er durch zwei enge Gassen den Hintereingang des Hotels. Die alte Treppe unter dem verblassten Teppichbelag knarrt wie jedes Mal. Im Bad steckt er die alte Topamax-Schachtel in seine Manteltasche. Dabei hört er, dass die Zimmertür geöffnet wird. Es ist Zoe.
Er dachte, er hätte ihre Entscheidung zu gehen akzeptiert, aber jetzt, da sie vor ihm steht, spürt er, wie sehr er sich nach ihr sehnt. Er möchte, das alles wieder so ist, wie es ein paar Tage lang war. Hatten sie nicht eben noch ein Bed-in? Aber etwas ist mit ihr. Ihr Atem
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