Was Liebe ist
erkennt man einen schwach schimmernden Streifen weißer Dünen. Als sie das Festland erreichen, leitet Zoe ihn von der N57 auf kleinen und kleinsten Nebenstraßen in die Dünen. Er fragt nicht, was sie vorhat,er folgt einfach ihren Anweisungen und Zeichen. Sie kennt sich aus, das nimmt er an. Er nimmt an, dass sie an einem Ort sind, der etwas mit ihrem Leben zu tun hat. Was kann er mehr wollen.
Die Flanken der Dünen rieseln hell und geräuschlos wie Uhrsand durch die Lichtkegel. Sie erreichen einen leeren Parkplatz für Badegäste. Zoe dirigiert ihn auf eine Ausbuchtung aus Schotter. Es ist die höchste Stelle in der näheren Umgebung. Von hier aus geht es nicht mehr weiter. Er stellt den Motor ab und schaltet das Licht aus. Ihre Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Hier ist niemand mehr außer ihnen. Zoe und er. Vielleicht lernt er sie hier kennen.
SIEBZEHN
ER KANN NICHT SCHLAFEN . Zoe liegt neben ihm unter der blaugrauen Fleecedecke, die sie aus dem Hotel mitgenommen hat. Ihre Sitzlehne ist zurückgestellt, von irgendwoher bekommt ihr Gesicht mit den geschlossenen Augen ein wenig Licht. Es ist der Mond, der jetzt als Sichel rechts über dem Horizont schwebt, weiß wie Kreide. Sogar ein paar ferne Schaumkronen auf dem Meer zeichnet sein Schimmern in die Dunkelheit.
Eine Weile hört er dem Rauschen des Meeres zu, aber es macht ihn nicht müde. Es gibt zu vieles, was ihm keine Ruhe lässt. Sein Leben steht unter bestimmten Einschränkungen, das ist so, und daran wird sich nichts ändern. Er hat oft darüber nachgedacht. Er hat oft versucht, sich vorzustellen, es wäre anders – er wäre anders. Aber weit haben ihn diese Gedanken nicht gebracht. Sie haben sich im Kreis gedreht. Es gibt kein Leben, das man leben sollte, sondern nur ein Leben, das man leben kann.
Er hat vier- oder fünfmal geliebt, und vier- oder fünfmal ist nichts daraus geworden. Liebe ist ein warmes positives Gefühl. Ein menschenfreundliches Gefühl. Die Bereitschaft, einander das Leben ohne Gegenleistung zu bereichern, seelischund körperlich. Das ist es, was er glaubt, was Liebe ist. Eine Ausnahme.
Doch was er für Zoe empfindet, beunruhigt ihn. Vielleicht geht es zu tief. Es macht ihn glücklich, einfach – wie jetzt – neben ihr zu sitzen und sie anzusehen. Mehr braucht er nicht. Er könnte neben ihr verhungern. Er möchte sie berühren, er möchte ihre Stimme hören, ihren Atem. Gegen das, was er für sie empfindet, kann er sich nicht wehren.
Aber das müsste er. Eigentlich dürfte er nicht hier sein, mitten in der Nacht, schlaflos ohne seine Tabletten. Das ist nicht sein Leben. Vielleicht ist die Liebe nicht sein Leben. Zu lieben gefährdet das, was er sich aufgebaut hat. Er ist Epileptiker, er hat seinen Weg gemacht. Er ist, der er ist. Er hat zwanzig Jahre gebraucht, das zu akzeptieren. Er kann sich nicht in zwanzig Stunden darüber hinwegsetzen, als wäre es nichts.
Irgendwann beginnt es im Osten zu dämmern. Es ist, als würde die aufsteigende Mondsichel einen Vorhang aus Licht hinter sich herziehen. Die dunklen Büschel aus Dünengras im Sand werden grau – sogar schon grün. Darüber das zarteste Rosé des Morgens. Die Farbnuancen in der Dämmerung kommen ihm so vielfältig vor, wie er sie noch nie gesehen hat.
Als es hell ist, steigt er aus dem Wagen. So sacht wie möglich schließt er die Tür und folgt einem Pfad vom Parkplatz in die Dünenlandschaft mit ihren windschiefen Büschen, Kriech- und Beerensträuchern. Die Luft ist weich, salzig. Der Pfad führt durch sandige Senken und über sanfte Kuppen mit Blick aufs Meer.
Hinter einer Sandverwehung, halb in die Düne hineingebaut, taucht ein grauschwarzes, fensterloses und sehr massives Betongebäude auf – ohne Frage ein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg. Der Sockel ist bemoost, das niedrige, flache Dach mit blassem Gras bewachsen. Innen ist es feucht, modrig, dämmrig. Es riecht nach Schimmel und Urin. Es gibt keine Einrichtungsgegenstände, nur ein paar verrostete Eisenstangen und morsche Holzreste auf dem Boden.
Vermutlich haben hier einmal deutsche Beobachtungsund Kommunikationsanlagen zur Überwachung der Küste gestanden. Die Ziegler-Elektro-AG hat während des Krieges Spulen für Feldtelefone hergestellt. Vielleicht gab es hier solche Telefone. Es gab sie überall in Europa. Solange gekämpft wurde, war der Zweite Weltkrieg ein florierendes Geschäft.
Jetzt ist der Krieg nur noch eine Vorstellung in den Köpfen von Menschen, die nicht dabei gewesen
Weitere Kostenlose Bücher