Was Liebe ist
sind. Kann er sich vorstellen, in diesem Bunker zu sitzen, während draußen Granaten einschlagen und die Dünen aufreißen? Kann er sich vorstellen zu kämpfen? Wie soll er das? Er verfügt über keinerlei militärische Erfahrung. Epileptiker kann man im Krieg nicht gebrauchen.
Als er den Bunker verlässt, sitzt Zoe auf einer Anhöhe im Sand, den Blick auf das Meer gerichtet. Er geht zu ihr.
Sie sagt: »Bist du schon lange auf ?«
»Ich konnte nicht schlafen.«
Die Sonne steht leuchtend hinter ihnen. Ihre dunklen Silhouetten dehnen sich weit Richtung Meer.
»Es gibt hier viele dieser Bunker«, sagt Zoe.
Er setzt sich neben sie. »Vielleicht sollte man sie abreißen und aufhören, Geschichte zu unterrichten. Dann könnte die nächste Generation frei von alten Ressentiments aufwachsen.«
Zoe hält ihr Gesicht in den leichten Wind.
»Mir gefällt, was du tust. Ich meine diese Entschädigungssache. Du tust das Richtige – ich will nicht, dass du denkst, mir wäre das alles egal. Aber weiter möchte ich nicht darüber sprechen. Ich lebe jetzt.«
Der Dunst über dem Wasser glitzert.
»Wohnt deine Mutter hier?«
»In Cadzand. Das ist auf der anderen Seite der Westerschelde. Wir müssten in Vlissingen die Fähre nehmen, um hinzukommen.«
»Gut«, sagt er. »Tun wir’s.«
»Am Fährhafen wartet Piet auf uns.«
»Piet weiß nicht, wo wir sind. Niemand weiß das.«
»Piet muss das nicht wissen. Deswegen konnte er gestern Nacht weiterfahren. Er kennt den Weg.« Und nach einer Weile fügt sie hinzu: »Was soll ich denn tun? Sag du es mir.«
Sie fahren nach Domburg, einem Seebad mit Hotels und Promenaden. Wie ein Märchenschloss thront ein riesiger alter Backsteinpalast mit Türmchen, Treppengiebeln, Arkaden und überdachten Terrassen auf den Dünen. Es ist der ehemalige Badepavillon, der nun verfällt. Vor hundert Jahren, erklärt ihm Zoe, war Domburg ein luxuriöser Kurort für Adlige und Künstler. Unter anderem hat Piet Mondrian hier zwei Jahre gelebt und gemalt.
Sie frühstücken in einem der Hotels mit Blick auf diebegrünte landseitige Dünenböschung. Zoe geht zu einem Postkartenständer an der Rezeption, dreht ihn. Schließlich entscheidet sie sich für ein Motiv, notiert etwas auf der Kartenrückseite und kommt zurück zum Tisch.
»Das hier stammt aus der Zeit, als Mondrian die Sommermonate hier in Domburg verbracht hat«, sagt sie und gibt ihm die Postkarte. Es ist der Abdruck eines modernen Triptychons. Die drei Bildteile zeigen ungefähr das Gleiche: einen ganz in Blau gehaltenen weiblichen Akt, aufrecht dastehend, mit schmalen Schultern, kleinen Brüsten und eng angelegten Armen. Die Köpfe sind von abstrakten roten und goldenen Erleuchtungssymbolen – Sternen und Gloriolen – umgeben. Die Augen der beiden äußeren Frauen sind geschlossen, die der mittleren weit geöffnet und auf einen fernen Punkt gerichtet. Das Triptychon heißt Evolution.
»Ich kenne von Mondrian nur die Bilder mit farbigen Quadraten und Rechtecken«, sagt er und dreht die Karte auf die Rückseite. Dort steht: Danke für diese Woche – Z.
Sie küsst ihn und sagt: »Genau vor einer Woche sind wir uns zum ersten Mal begegnet.«
»Tatsächlich? Ein Jubiläum. Champagner!«
»Wir setzen uns heute Nachmittag mit einer Flasche in die Dünen. Es wird noch einmal warm.«
Der Kaffee ist bitter und stark. Zu stark für ihn. Seine Hände beginnen zu zittern. Er legt die Postkarte auf den Tisch und sagt: »Bist du das?«
»Die Frau?«
»Würdest du sie sein wollen?«
»Habe ich denn ihre Figur?«
Er betrachtet das Bild. Die Frau ist nackt, und irgendetwas öffnet ihr die Augen. Vielleicht muss man nackt sein, um die Wahrheit zu erkennen.
Er sagt: »Ich bin wirklich der Falsche, um dir einen Rat zu geben. Ich befürchte nur, wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie es mit uns weitergehen soll.«
Sie schweigt. Dann sagt sie: »Heute noch nicht. Heute ist unser Jubiläum.«
Er hofft, dass ihm nach dem Kaffee nicht unwohl wird wie vor einer Woche. Ein Jubiläum zu begehen bedeutet schließlich nicht, dass alles noch einmal geschieht. Er braucht dringend frische Luft.
Sie machen es so, wie Zoe es beschlossen hat: Am Nachmittag setzen sie sich mit einer Flasche Champagner in die Dünen. Die Luft staut sich zwischen den hellen Sandhängen und heizt sich in der Sonne auf. Es wird noch wärmer als am Tag zuvor. Nachdem er die Flasche mit einem gelungenen Knall geöffnet hat, trinken sie. Er trinkt auch. Er ist wach.
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