Was macht der Fisch in meinem Ohr
Organisationen weltweit beschäftigen Mitglieder des AIIC, des Internationalen Verbands der Konferenzdolmetscher, als Angestellte in Vollzeit, und nur vier (die UNO mit ihren Sitzen in Genf und in New York und zwei der Internationalen Kriegsverbrechertribunale in Den Haag) beschäftigen mehr als zehn. Die 3000 Mitglieder des AIIC (und eine etwa gleich große Zahl von Nichtmitgliedern) arbeiten mehrheitlich also als Freiberufler und sind bei ihren Reisen von Konferenz zu Konferenz mit mannigfaltigen Themen konfrontiert. Dolmetscher müssen Schnellsprecher und gute Zuhörer, hellwach und dennoch entspannt sein, in der Lage, unsagbar langweilige Wortergüsse zu ertragen, aber blitzschnell das Wesentliche zu erfassen, wenn etwas Neues aufs Tapet kommt. Sie gehören zu einer seltenen Spezies.
Sie könnten sogar noch seltener werden, denn das Überleben der Art ist aus mehreren Gründen gefährdet. Zum einen durch den rasanten Niedergang des Fremdsprachenunterrichts in der englischsprachigen Welt in den letzten 50 Jahren, der zur Folge hat, dass es immer weniger Berufseinsteiger mit Englisch als aktiver Sprache gibt. Wenn man der männlichen Jugend Fahrräder vorenthielte, würde sich die Tour de France binnen 10, 20 Jahren in eine Feier geriatrischer Fitness verwandeln und dann eingestellt werden. Wenn man englische Muttersprachler in ihrer Jugend nicht in wenigstens zwei der Fremdsprachen Spanisch, Russisch, Chinesisch, Arabisch und Französisch intensiv und bis zu einem hohen Niveau ausbildet, hat man binnen 10 oder 15 Jahren keine Bewerber um eine Dolmetscherausbildung mehr. Natürlich gibt es viele Zweisprachige, die Englisch und Spanisch können, aber nur wenige von ihnen beherrschen außerdem eine weitere UN-Sprache so fließend, wie es erforderlich ist. Senkte man die Anforderungen für englische »A«-Sprecher von zwei auf eine Fremdsprache, könnte das internationale Dolmetschen mit Relais und Retour fortgeführt werden und die Personalprobleme wären weniger akut. Da von zehn Bewerbern um ein Übersetzerstudium allerdings nicht mehr als fünf das Studium auch tatsächlich aufnehmen, und da kaum ein Drittel derer, die es auch abschließen, für gut genug befunden wird, um den Beruf auch tatsächlich auszuüben, sind in der gesamten englischsprachigen Welt erhebliche Investitionen in die Sprachausbildung dringend geboten. Bleiben sie aus, wird die nächste Kohorte unserer Politiker und Diplomaten, Geschäftsleute und Berater, Menschenrechtsaktivisten, international tätigen Anwälte und Projektemacher in absehbarer Zeit vielleicht in beiden Ohren einen Fisch brauchen.
Eine zweite Gefahr für den Fortbestand des Dolmetschens in internationalen Gremien, wie wir es heute kennen, ist, dass Staaten immer weniger gewillt sein könnten, das simultane Dolmetschen in die Sprachen zu finanzieren, die als globale Verkehrssprachen an Bedeutung verlieren – während es sich noch auf Jahrzehnte hinaus als politisch nicht durchsetzbar erweisen dürfte, Russisch (beispielsweise) zu ersetzen, und niemand eine genaue Vorstellung hat, was womöglich an die Stelle des Französischen tritt.
Aber am Horizont taucht eine noch größere Gefahr auf, und sie droht von dem, woran Forschungslabore in New Jersey und anderswo genau in diesem Moment tüfteln. Wenn es gelingt, die Technik der Spracherkennung, mit der ein weithin verfügbarer Wortprozessor gesprochene Sprache in Text verwandelt, und das Verfahren der Sprachsynthese, mit dem heute automatische Anrufbeantworter gesteuert werden, zu kombinieren, könnte sich die von der gegenwärtigen amerikanischen Wissenschaftspolitik auf die Agenda gesetzte FAHQT sogar zur FAHQST weiterentwickeln – zur »fully automated high-quality speech translation« als vollautomatische Übersetzung gesprochener Sprache. Getestete Systeme, deren Markteinführung kurz bevorsteht, können schon heute fortlaufenden englischen Text aus gesprochenem Spanisch generieren. Ich erlebe es vielleicht nicht mehr, viele von Ihnen aber womöglich doch, dass formelhafte internationale Diplomatenprosa oder typische Fragen von Touristen an Hotelrezeptionen in Zukunft automatisch übersetzt werden – andere Anwendungen in der »sekundären Oralität« einer schrift- und in rasant zunehmenden Maß technikgeprägten Kultur nicht ausgeschlossen.
Sie treten dann in die Ära tertiärer Oralität ein. In eine andere Welt.
25. ENTSPRICH MIR, WENN DU KANNST: HUMOR ÜBERSETZEN
Was Übersetzen leistet, kann man unstrittig wohl
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