Was macht der Fisch in meinem Ohr
gehalten werden, in die fünf anderen Sprachen übersetzt werden sollen«. 4 Danach erwarben alle Sonderorganisationen der UNO – von der Internationalen Arbeiterorganisation bis zur Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation, von der UNESCO bis zur Weltbank – die Ausrüstung, suchten nach Personal und erzeugten die wunderbare Illusion, jeder Delegierte werde jederzeit alles verstehen können, was jeder andere Delegierte sagt, und das noch während der Betreffende spricht.
Für Außenseiter stand nun fest, dass die Vielfalt der Sprachen kein Hindernis mehr für das gemeinsame Handeln der Weltgemeinschaft sein würde. Eingeweihte – Diplomaten und Unterhändler in den zahlreichen neuen Institutionen der UNO – gaben sich dieser Illusion nicht hin. Die Feststellung einer Studentin des internationalen Rechts trifft zu: Texte und Reden, in großer Eile in mehreren Sprachen produziert, mögen zwar grammatisch korrekt sein, sind aber niemals bis ins Letzte stimmig. Die entstehenden kleinen Abweichungen, über die Delegierte stundenlang debattieren, »schärfen wiederum das kollektive Bewusstsein für die Bedeutung des Übersetzens«. 5 Die Anfangsjahre des Simultanübersetzens waren jedoch auch Jahre großer Hoffnung auf eine neue Weltordnung, in der man miteinander sprach, statt wie in den vorausgegangenen Jahrzehnten aufeinander zu schießen. Unter diesen Umständen vergaß die Öffentlichkeit schnell, was für ein riskantes und geheimnisvolles Kunststück eine sehr kleine Gruppe von Sprachakrobaten in den Glaskästen an der Rückseite des Konferenzsaals vollbrachte.
Es bedarf kaum der Erklärung, warum völlige Simultaneität beim Dolmetschen eine Illusion ist. Um etwas übersetzen zu können, muss man es vorher gehört haben: Übersetzen ist immer »Nachsprechen«. Der Anschein von Simultaneität wird durch einen bunten Strauß eindrucksvoller Kunstgriffe erzeugt. Erstens werden viele Reden vom Blatt abgelesen. Diplomaten lassen den Dolmetscherteams ihre Vorlagen manchmal bereits vorab zukommen – womöglich zwar erst direkt vor einer Konferenz, aber sogar ein Vorlauf von nur wenigen Minuten vermindert den Stress erheblich. Zweitens fallen die auf internationalen Konferenzen gehaltenen Reden meist in die Kategorie »Überraschungen wenig wahrscheinlich«. Hat man mit der verhandelten Materie und der formelhaften Sprache erst einmal Erfahrungen gesammelt, kann man dem tatsächlich Gesprochenen ein wenig vorgreifen und hat geistige Kapazität frei, mit der man umso genauer horchen kann, ob ein Redner womöglich an entscheidender Stelle vom Manuskript abweicht. Ein Dolmetscher kann auch einmal zusammenfassend sagen: »Der sowjetische Delegierte hat gerade einen Scherz gemacht«, statt einen umständlichen russischen Kalauer Wort für Wort wiederzugeben. Ungeachtet dessen muss man für die Tätigkeit als Konferenzdolmetscher (wie der Simultandolmetscher oder Sprachvermittler immer häufiger genannt wird) ein hohes Maß an Konzentrationsfähigkeit und sprachlicher Gewandtheit mitbringen. Es gibt nur wenige Menschen, die dazu überhaupt befähigt sind, und noch weniger, die das tagein, tagaus machen wollen.
Inzwischen gibt es den Beruf seit 60 Jahren, und es ist nicht leichter geworden vorherzusagen, ob jemand ein guter Konferenzdolmetscher werden kann oder nicht. Noch heute nehmen zwischen 50 und 75 Prozent aller für Dolmetscherkurse zugelassenen Studenten den Beruf später nicht auf. 6 In seinen Anfängen, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, gab es aufgrund der verheerenden Geschichte des 20. Jahrhunderts viele Tausende Menschen, die über hervorragende Kenntnisse in mehreren der sechs offiziellen Weltsprachen verfügten (Spanisch, Englisch, Französisch, Chinesisch, Russisch und Arabisch) – Nachkommen von Personen, die vor der Russischen Revolution geflüchtet waren: in Shanghai aufgewachsen, Ausbildung am französischen Lyzeum, wo sie außerdem Englisch lernten; junge Flüchtlinge aus dem von Deutschland besetzten Frankreich, die monatelang in Kuba oder Mexiko auf das Visum für die USA gewartet hatten und dann in New York aufs College gingen, und so weiter. Die erste Generation der Elite der Übersetzerberufe bestand größtenteils aus jungen Leuten mit einer solchen Familiengeschichte, und sie blieben 30 Jahre oder länger auf dem Posten. Die Gründungsväter und -mütter der Konferenzdolmetscher-Zunft sind inzwischen im Ruhestand, und sie zu ersetzen erweist sich als schwierig. Besonders akut ist der
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