Was macht der Fisch in meinem Ohr
Personalmangel bei den zwei Sprachen, die für alle Angelegenheiten von globaler Bedeutung am dringendsten gebraucht werden – Arabisch und Chinesisch. Sogar die Kabinen, in denen aus dem Russischen und aus dem Französischen ins Englische gedolmetscht wird, sind nicht mehr so leicht zu besetzen.
Das Konferenzdolmetschen, wie es heute bei der UNO und ihren Unterorganisationen sowie auf den meisten internationalen Kongressen stattfindet, die es finanzieren können, hat mit dem bei den Nürnberger Prozessen nicht mehr viel zu tun. Für das damalige Experiment hatte man die Regel aufgestellt, dass alle Dolmetscher nur in ihre Muttersprache (heute A-Sprache genannt, die »aktive«) arbeiten und dass aus dem »Original« übersetzt wird. Bei den sechs Arbeitssprachen der UNO würde man dafür sechs Teams von jeweils fünf Übersetzern benötigen, insgesamt also 30 Dolmetscher für eine Versammlung. Die Arbeit wird heute als geistig so belastend eingeschätzt wie die von Fluglotsen, und anstelle der 85-Minuten-Rotation in Nürnberg sind inzwischen regelmäßige Wechsel nach 30 Minuten (in der chinesischen und der arabischen Kabine sogar schon nach 20 Minuten) bei einem drei- bis sechsstündigen Arbeitstag Usus – sodass man genau genommen 60 und nicht bloß 30 Personen für eine internationale Konferenz braucht, wenn alle Regeln eingehalten werden sollen. Aber 60 Personen, die mehrere Sprachen auf so hohem Niveau beherrschen, bekommt man zu keiner Zeit an keinem Ort der Welt zusammen, nicht einmal in New York City. Das folgende Schema zeigt, wie sich ein reibungsloser Sprachentransfer mit einem Team von lediglich 14 Dolmetschern bewerkstelligen lässt:
In der französischen Kabine : zwei Dolmetscher, die Spanisch und Englisch beziehungsweise Russisch und Englisch hören und beide Französisch ausgeben
In der englischen Kabine : zwei Dolmetscher, die Französisch und Russisch beziehungsweise Spanisch und Französisch hören und beide Englisch ausgeben
In der spanischen Kabine : zwei Dolmetscher, die beide Englisch und Französisch hören und Spanisch ausgeben
In der russischen Kabine : zwei Dolmetscher, die beide Spanisch beziehungsweise Französisch sowie Englisch hören und Russisch ausgeben
In der chinesischen Kabine : drei Dolmetscher, die in Schichten arbeiten und Englisch und Chinesisch abnehmen und Chinesisch und Englisch ausgeben
In der arabischen Kabine : drei Dolmetscher, die in Schichten arbeiten und entweder Französisch oder Englisch und Arabisch abnehmen und Arabisch und Englisch oder Französisch ausgeben
Mit anderen Worten: Chinesisch wird vermittelt über den englischen Kanal ins Spanische, Französische und Russische gedolmetscht; Arabisch wird entweder über Englisch oder, so am häufigsten, Französisch als Relaissprache ins Spanische und ins Russische gedolmetscht; Spanisch und Russisch werden über den englischen Kanal ins Chinesische und über den französischen Kanal ins Arabische übersetzt. Ist der Russischdolmetscher in der englischen Kabine auf die Toilette gegangen, wird das Russische ebenfalls von der französischen Kabine als Relais abgenommen und ins Englische gedolmetscht; und hat der Spanischdolmetscher in der französischen Kabine plötzlich Nasenbluten, wird das Spanische über Englisch als Relaissprache ins Französische gedolmetscht.
Relaisdolmetschen ist eigentlich keine optimale Lösung, weil die Fehleranfälligkeit durch die Verdoppelung des Übertragungswegs steigt und die Zeitspanne zwischen der Rede eines Delegierten und der Ausgabe in die Kopfhörer der Zuhörer noch größer wird. Auch der Umstand, dass die Chinesisch- und die Arabischdolmetscher in ihre »A«-Sprache und von ihr ins Englische übersetzen, ist nicht positiv zu bewerten – beim Arbeiten in beide Richtungen verstärkt sich die Anspannung noch. Die zwei Sonderformen des Dolmetschens – Relais - und Retour dolmetschen (bei dem einen nimmt der zweite Dolmetscher seinen Text vom gedolmetschten Text eines ersten Dolmetschers ab, bei dem anderen dolmetscht eine Person in zwei Richtungen) – sind freilich ein Gottesgeschenk für die UN-Funktionäre, die einen reibungslosen Ablauf der Versammlungen gewährleisten müssen. Ohne Relais und Retour würde sich das ganze Prozedere deutlich verteuern – und es ist schon jetzt nicht eben billig.
In der Europäischen Union gewährleistet man mit einem verbesserten Verfahren, dass Zusammenkünfte eines Gremiums mit 23 offiziellen Arbeitssprachen gedolmetscht
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