Was macht der Fisch in meinem Ohr
Rekordgeschwindigkeit (208 mph) war, die der Eurostar bei einer Testfahrt auf der »UK High Speed 1 line« (der britischen Schnellfahrstrecke von London zum Eurotunnel) im Juli 2003 erreichte. Es folgt dieser französische Text:
Le record de vitesse d’un train Eurostar établi en juillet 2003 lors du test d’une ligne TGV en Grande-Bretagne
Man könnte es einfach als der Konvention geschuldet ansehen, dass in der französischen Übersetzung die Angabe der »miles per hour« fehlt – sie wurde offensichtlich aber ausgelassen, weil sie französischen Lesern nichts sagt, denn sie wissen meist ohnehin nicht, wie lang eine Meile ist. Interessanter ist die französische Behauptung, die 334,7 km/h seien die bei der Testfahrt erreichte Spitzengeschwindigkeit des Zugs gewesen, wohingegen die englische Version feststellt, dass mit dieser Spitzengeschwindigkeit ein Rekord gebrochen wurde. Welcher? – In Großbritannien so ziemlich jeder, fuhr doch noch nie ein Zug auf einer britischen Bahnstrecke schneller. Für Frankreich ist das freilich kein Rekord, denn TGVs sind häufig schneller unterwegs. Damit das Französische also nicht ganz und gar wahrheitswidrig ausfällt, muss der Übersetzer Satz und Kontext umgestalten. Die eigentliche Raffinesse der Umgestaltung zeigt sich darin, dass aus der »UK High Speed 1 line« im Französischen einfach eine Schnellfahrstrecke in Großbritannien (»une ligne TGV en Grande-Bretagne«) wird. Französische Leser brauchen auf die peinliche Tatsache nicht hingewiesen zu werden, dass Großbritannien nur eine einzige solche Strecke hat, während die Franzosen viele haben, und deshalb teilt man ihnen den richtigen Namen eines Glanzstücks britischer Eisenbahntechnik, einzigartig aus britischer Sicht, lieber nicht mit. Obwohl sie durch einen Schnellzug enger verbunden sind denn je, betten Großbritannien und Frankreich noch simpelste Angaben in verschiedene Kontexte ein. Übersetzungen formulieren die Botschaft selbstverständlich so um, dass sie in den alternativen Gebrauchszusammenhang passt. 1
Literaturübersetzer kennen den »Gebrauchszusammenhang« ihrer Arbeit weniger genau als Übersetzer aller anderen Textsorten. Im Grunde wissen sie nicht einmal, ob ihr Text überhaupt einen Endverbraucher haben wird. Viele übersetzte Bücher (darunter etliche von großem Wert) verkaufen sich nur in bedauernswert kleinen Stückzahlen und verschwinden in der Versenkung. Der einzige »Kunde« einer literarischen Übersetzung ist ein fiktiver Leser – der Leser, den jeder Übersetzer bei der Arbeit im Kopf hat.
Das ist der wahre Grund, weshalb Übersetzer sich bei der Übertragung von Kulturtatsachen sagen, sie streben eine Wirkungsäquivalenz an.
Dieses häufig erwähnte Kriterium der Übersetzungskunst hat nur zwei Haken: die »Äquivalenz« und die »Wirkung«.
Übersetzungen haben Wirkungen. Sie bringen Leser zum Lachen oder zum Weinen oder dazu, in die Bibliothek zu laufen und nach weiteren Büchern derselben Art zu suchen. Sie können sogar ziemlich gravierende Wirkungen haben, wie die folgende historische Anekdote zeigt.
Im Jahr 1870 veröffentlichte der preußische Außenminister und spätere deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck eine Presseerklärung des Inhalts, sein Souverän habe die vom französischen Botschafter übermittelte Forderung, die deutsche Königsfamilie möge ihren Verzicht auf künftige Ansprüche auf den spanischen Thron erklären, abschlägig beschieden. In dieser »Emser Depesche« hieß es noch, der König brauche darüber auch nicht noch einmal mit dem französischen Botschafter zu sprechen und habe das durch den »Adjutanten vom Dienst« bestellen lassen:
Seine Majestät der König hat es darauf abgelehnt, den französischen Botschafter nochmals zu empfangen, und demselben durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, dass Seine Majestät dem Botschafter nichts weiter mitzuteilen habe.
Für den Adjutanten vom Dienst, wie er im Deutschen bezeichnet wurde, gibt es zufällig ein fast identisches französisches Wort – adjudant . Nach ihrem Eintreffen in Paris wurde Bismarcks Depesche unverzüglich von der Nachrichtenagentur Havas übersetzt und an alle Zeitungen telegrafiert, die sofort eine Sonderausgabe druckten und auf den Markt brachten. In der Havas-Version wurde Adjutant nicht übersetzt, sondern in seiner ursprünglichen Wortform übernommen. Die Wirkung dieses einen Worts war enorm. Das französische Wort adjudant bedeutet Hauptfeldwebel
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