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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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Lehrer namens Mr Smith. Rufen Franzosen überrascht aus: »Aber ich dachte, Sie wären Franzose«, erröte ich noch heute vor Stolz wie der gute Schüler, der ich war. Mit solchen Schmeicheleien wollte man mir ja aber nicht sagen, dass ich Französisch beherrsche wie eine »Muttersprache«, sondern dass man von meiner Sprechfertigkeit auf eine bestimmte Nationalität geschlossen hat. Und die Nationalität gehört nun ohne Zweifel zu den wenigen Dingen, die die meisten Menschen qua Geburt erwerben – entweder kraft der Nationalität ihrer Eltern (»Recht des Blutes«, jus sanguinis ) oder durch ihren Geburtsort (»Recht des Bodens«, jus soli ). 1 Die relativ kurze Geschichte des auf sprachlicher Einheitlichkeit gründenden europäischen Nationalstaats hat zu einer nachhaltigen Verwechslung von Sprache und Nationalität sowie »muttersprachlicher Kompetenz« und Geburtsland geführt.
    Der Pass, den jemand besitzt, hat nichts mit der Kompetenz seines Besitzers als Übersetzer zu tun, genauso wenig wie die Sprache, die der Betreffende als Kind in seiner Umgebung gelernt hat. Entscheidend ist, ob man in der Sprache, in die man übersetzt, zu Hause ist oder sich heimisch fühlt. Sie »Muttersprache« oder »Erstsprache« zu nennen hilft dabei im Grunde nicht, und noch weniger hilft das Insistieren darauf, dass man nur in eine Muttersprache übersetzen kann. Die Wege, auf denen Menschen in einer Sprache heimisch werden, sind so mannigfaltig, dass bloße zwei Kategorien (»muttersprachlich« und »nicht muttersprachlich«) dem nicht gerecht werden können, seien sie noch so weit gefasst.
    Zwei Sprachen außerordentlich gut zu beherrschen gilt gemeinhin als Voraussetzung für die Befähigung zum Übersetzen, auf viele Gebiete trifft das eigentlich aber nicht zu. Beim Übersetzen von Lyrik, Theaterstücken und Untertiteln für Filme ist Gemeinschaftsarbeit die Norm. Ein Partner ist in der »Quellsprache«, in L1, zu Hause, der andere in der »Zielsprache«, in L2, und beide müssen eine gemeinsame Sprache haben, in der Regel, aber nicht zwingend, die L2. Der Zielsprachenübersetzer muss außerdem – tatsächlich oder gefühlt – die Fachsprache des jeweiligen Genres sehr gut beherrschen: weil er selbst Stücke schreibt, Dichter ist oder die Gabe hat, Aussagen auf das sehr reduzierte Format von Untertiteln zu komprimieren, und so weiter. Sogar in der Übersetzung literarischer Prosa gibt es gefeierte Übersetzerteams – Richard Pevear und Larissa Volokhonsky zum Beispiel, die gemeinsam neue englische Versionen zahlreicher Klassiker der russischen Literatur geschaffen haben. In einer anderen Form von Gemeinschaftsarbeit übertrage ich selbst die Romane von Ismail Kadare, der auf Albanisch schreibt, in einer Sprache, die ich nicht über Sprachführerniveau hinaus beherrsche. Ich stütze mich bei meiner Arbeit auf die von dem Geiger Tedi Papavrami stammenden französischen Übersetzungen und bespreche Fragen, die sich mir stellen, mit beiden, und zwar auf Französisch, das Kadare so gut spricht, dass er Auskunft über Anspielungen, Bezüge, Stilfragen und so weiter geben kann.
    Außerhalb Westeuropas ist die Voreingenommenheit gegenüber Übersetzungen in eine Sprache, die nicht die Muttersprache ist, weniger stark verfestigt; mancherorts wird ein solches Gebot sogar glatt zurückgewiesen. Viele Jahrzehnte lang setzte die Sowjetunion durch, dass die Ansprachen ihrer Vertreter bei den Vereinten Nationen nicht von Muttersprachlern der anderen offiziellen Sprachen übersetzt wurden, sondern ausschließlich von Russen, die professionelle Dolmetscher und Übersetzer ins Spanische, Englische, Arabische und Chinesische waren. Die Moskauer Hochschule für Fremdsprachen entwickelte sogar eine Theorie – oder den Platzhalter einer solchen – zur Rechtfertigung dieser politisch motivierten Praxis, der zufolge die maßgebliche Fähigkeit eines Dolmetschers das vollständige Erfassen des Originals ist. 2 Die meisten Fachleute sind anderer Ansicht und halten im Gegenteil die quasi bis zur Selbsttätigkeit perfektionierte Gewandtheit in der Zielsprache für den eigentlichen Schlüssel zur Bewältigung der geistig fast unvorstellbar fordernden Aufgabe des Simultandolmetschens – und dennoch arbeitete die Sowjetunion über 40 Jahre lang fast ausschließlich mit »L2-Dolmetschern«, die ihre Aufgabe sehr gut meisterten. 3
    L2-Übersetzen – das Schreiben in einer anderen als der Erstsprache – wird auch häufig genutzt für Sprachen, die

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