Was macht der Fisch in meinem Ohr
Schreiben, und es wurde – in Schulen, Klöstern, Kirchen, Kanzleien und bei Gericht – auch gesprochen, indem man die Schriftsprache mündlich wiedergab. Wer Latein – solange es als wichtigste Form der Kommunikation in Gebrauch war – sprach, verfügte wenigstens noch über eine andere Muttersprache, doch diese Volkssprachen wurden für das systematische Denken oder für schriftliche Darlegungen nicht benutzt. Doch wenn wir die von der Mutter gelernte Sprache deutlich von der Sprache abgrenzen können, der sich männliche Angehörige der höheren Stände in Westeuropa zwischen 700 und 1700 u. Z. mit dem größten Erfolg bedienten, müssen wir uns die Begriffe »Muttersprache« und »native speaker« noch einmal vornehmen.
Beispiele für den Unterschied zwischen »erster erlernter Sprache« und »Arbeitssprache« finden sich fast überall. Ich finde sogar mehrere in meiner eigenen Familie. Sprechen lernte mein Vater auf Jiddisch, in der Sprache seiner Mutter und seiner Umgebung im Londoner East End vor ungefähr 100 Jahren. Nach der Einschulung lernte er Englisch. Es steht außer Frage, dass er damit schon bald wesentlich mehr anfangen konnte, als das mit seiner Muttersprache je möglich gewesen wäre. Die Mutter meiner Kinder wiederum sprach als kleines Kind Ungarisch, lernte aber Französisch, als sie mit fünf Jahren nach Frankreich kam. In beiden Fällen ging die Muttersprache nicht verloren. Auch Newton, Descartes und Leibniz verwendeten im Alltag weiter ihre jeweilige Muttersprache, Englisch, Französisch beziehungsweise Deutsch.
In vielen Fällen bleibt die Muttersprache, die von einer erlernten Sprache der schulischen und höheren Bildung abgelöst wird, heute eben »Mutters Sprache« und wird ausschließlich für die Interaktion mit der älteren Generation verwendet. Jiddisch und Ungarisch blieben bei beiden genannten Angehörigen meiner Familie die Sprachen, in denen sie jeweils mit ihrer Mutter kommunizierten, und dienten ihnen als Erwachsenen zu keinem anderen Zweck. In Ländern wie Frankreich, Großbritannien und den USA ist das ziemlich typisch für Einwanderer der ersten Generation, die in ihrer Muttersprache oftmals auf dem im Alter von circa fünf Jahren erreichten Stand verharren. Für Descartes und Newton jedoch galt das mit Sicherheit nicht, denn sie schrieben auch auf Französisch beziehungsweise Englisch; und für die viele Millionen anderer zweisprachiger Menschen, die es heute weltweit gibt, dürfte es ebenfalls nicht zutreffen.
Unser Leben lang binden uns mehr oder weniger starke Gefühle an die Sprache, in der wir als Erstes Lieder, Kinderreime, Spiele und Familienbräuche kennengelernt haben. Das sind prägende Erfahrungen, und die Sprache, in der sie erworben wurden, ist gewiss für immer in das warme Licht unserer frühesten Erinnerungen getaucht. Doch daraus folgt nicht automatisch, dass die Sprache unserer frühesten Erinnerungen als Sprache von besonderer Bedeutung für das ist, was aus uns einmal wird oder was wir als unsere persönliche Identität ansehen.
Wird die gelernte Erstsprache von einer Bildungssprache überlagert, büßt sie ihren Vorrang bei der Entwicklung eines Individuums ein. In der erworbenen Zweitsprache, die zunehmend als erste verwendet wird, erlernt man die grundlegenden Techniken des Schreibens und Rechnens und so wichtige Dinge wie Fußball- und Hockeyregeln, Songtexte und das heikle Geschäft der sozialen Interaktion außerhalb des Familienkreises. All dieses plötzliche Wissen lässt sich natürlich in eine Erstsprache zurückübersetzen, insbesondere dann, wenn das familiäre Umfeld eine zweigleisige sprachliche Entwicklung fördert und Eltern oder Geschwister sich die Zeit nehmen und dem Kind beibringen, wie es das alles im Idiom der Familie ausdrücken kann; ohne eine solche Unterstützung aber würden nur wenige Kinder sich die Mühe machen, etwas so offenkundig Sinnloses zu tun (sinnlos deshalb, weil ohne Bezug zum sozialen und persönlichen Nutzen der neu erworbenen Fähigkeiten).
Die Verwendung des Ausdrucks »Muttersprache« für die Sprache, in der ein Erwachsener sich mühelos zu bewegen weiß, schafft aber ein Problem. Sie vermengt nämlich die Geschichte des jeweils individuellen Spracherwerbs mit dem großen Rätsel, was mit »eine Sprache haben« eigentlich gemeint ist. Noch tückischer ist, dass der Ausdruck uns nahelegt, die Sprache, in der die Mutter zu uns gesprochen hat, sei nicht nur die von uns bevorzugte, sondern sei selbst, in
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