Was macht der Fisch in meinem Ohr
Fremdsprache lernen, geschweige denn aus ihr übersetzen?
9. WÖRTERBÜCHER VERSTEHEN
Übersetzer schlagen ständig in Wörterbüchern nach. Ich besitze eine ganze Sammlung, angefangen von Oxford English Dictionary in zwei Bänden und Rogets Thesaurus , die auf Ehrenplätzen stehen, bis zu einsprachigen, zweisprachigen und Bildwörterbüchern zu französischen Redensarten, russischen Sprichwörtern, juristischen Fachbegriffen und vielen anderen. Diese Bücher sind meine treuen Freunde und sie erzählen mir faszinierende Dinge. Dass ich Rat in Wörterbüchern suche und viel Hilfe von ihnen erfahre, heißt aber nicht, dass es ohne sie das Übersetzen nicht gäbe. Eigentlich geht die Geschichte genau andersherum. Ohne das Übersetzen gäbe es in der westlichen Welt keine Wörterbücher.
Zu den frühesten belegten Schriften gehören Verzeichnisse mit Begriffen für wichtige Gegenstände in zwei Sprachen. Solche zweisprachige Glossare wurden von Schreibern erstellt mit dem Ziel, beim Übersetzen aus einer anderen Sprache die Einheitlichkeit zu wahren und den Erwerb übersetzerischer Kenntnisse durch den Nachwuchs zu beschleunigen. Das sind immer noch die wichtigsten Zwecke der heute gebräuchlichen zwei- und mehrsprachigen Glossare. Französische Parfümeure unterhalten firmeneigene Datenbanken zur Terminologie ihres Gewerbes, die Übersetzern beim Erstellen von Werbematerial für Exportmärkte helfen sollen, nicht anders als Drehmaschinenhersteller, Fachärzte und international tätige Wirtschaftsanwaltskanzleien. Diese Arbeitsmittel helfen Übersetzern zwar enorm, stehen aber nicht am Ursprung des Übersetzens selbst. Sie sind das Resultat einer etablierten Übersetzungspraxis, nicht die Quelle, aus der Übersetzer ihr Können schöpfen.
Die zweisprachigen Wörterbücher der Sumerer sind Räume voller Tontafeln, geordnet nach Kategorien: Berufe, Verwandtschaftsverhältnisse, Recht, Gegenstände aus Holz, Gegenstände aus Schilf, Töpferware, Häute und Kupfer, andere Metalle, Haus- und Wildtiere, Körperteile, Steine, Pflanzen, Vögel und Fische, Textilien, geografische Namen sowie Speisen und Getränke – allesamt mit den entsprechenden Begriffen in der mit dem Sumerischen nicht verwandten Sprache der akkadischen Eroberer. 1 Eingeteilt nach Sachgebieten, sind sie das genaue historische Gegenstück heutiger Spezialwörterbücher wie »Wirtschaftsfranzösisch«, »Russisch für die Öl- und Gasindustrie«, »Deutsche Terminologie des Rechtswesens« und so weiter. Manche sind mehrsprachig (wie viele Spezialwörterbücher der Gegenwart) und geben Entsprechungen in den Sprachen der Amoriter, Hurriter, Elamiten, Ugariten und anderer Zivilisationen, mit denen die Akkader Handelsbeziehungen, wenngleich nicht immer friedlicher Natur, unterhielten. 2 Von Mesopotamien bis nach Westeuropa im ausgehenden Mittelalter dienten Wörterverzeichnisse mit ihren jeweiligen Entsprechungen in anderen Sprachen ein und demselben Zweck: die Übersetzungspraxis zu regeln und die nächste Übersetzergeneration auszubilden. Bezeichnenderweise vermitteln sie zwischen der Sprache von Eroberern und der Sprache von Eroberten, die als Kultursprache erhalten blieb. Bis zur Erfindung des Buchdrucks gab es im Westen allerdings nie allgemeinsprachliche oder universelle Wörterverzeichnisse mit Wortdefinitionen in derselben Sprache. Das einsprachige Wörterbuch – das Universalwörterbuch oder die Enzyklopädie –, wie wir es im Westen kennen, ist ein spätes Folgeprodukt des Übersetzer-Gefährten aus vorchristlicher Zeit, des zweisprachigen Wörterverzeichnisses, es hat unsere Auffassung von Sprache allerdings entscheidend geprägt. Das erste allgemeinsprachliche Universalwörterbuch wurde von der Académie française im 17. Jahrhundert auf den Weg gebracht (Band I, A–L, erschien im Jahr 1694); das erste von A bis Z komplette Wörterbuch war Samuel Johnsons Dictionary of the English Language, das 1755 in zwei Bänden herauskam.
Diese Monumente markieren in einem besonderen Sinn die Geburtsstunden des Französischen und des Englischen als moderne Sprachen. Nachdem es sie gab, mussten alle anderen Sprachen auch ein allgemeinsprachliches Wörterbuch haben – sonst wären es keine richtigen Sprachen gewesen. Es war nicht nur Rivalität, die ein großes Wettrennen um die Produktion nationaler Wörterbücher für alle »Nationalsprachen« auslöste. Das Bedürfnis nach Erfassung des lexikalischen Gesamtbestands einer Sprache in einem
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