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Was macht der Fisch in meinem Ohr

Was macht der Fisch in meinem Ohr

Titel: Was macht der Fisch in meinem Ohr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia David u Morawetz Bellos
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Universalwörterbuch war auch Ausdruck einer neuen Auffassung davon, was eine Sprache ist, die sich an die englischen und französischen Vorläufer anlehnte.
    Die chinesische Tradition ist vollkommen anders. 3 Der Reichtum an chinesischen Wörterverzeichnissen hängt wesentlich mit der chinesischen Tradition der Kommentierung alter Texte zusammen und nicht mit dem Übersetzen aus anderen Sprachen, woran die traditionelle chinesische Zivilisation offenbar so wenig interessiert war wie die Griechen. Frühe chinesische Wörterbücher waren nach Bedeutungsfeldern geordnet und gaben Definitionen, die ungefähr so aussahen: Wenn jemand mich Onkel nennt, nenne ich ihn Neffe (aus dem Erh Ya , 3. Jahrhundert v. u. Z.). Ein Wort zu finden war dort nicht gerade einfach und viele angeführte Definitionen waren zu vage, als dass man sie nach unseren Ansprüchen an Wörterbücher nützlich nennen könnte. Das Erh Ya diente der Pflege und Vertiefung von Wissen und Kenntnissen über noch ältere Texte, damit der erreichte Stand der Kultiviertheit von Sprache und Schrift erhalten blieb. Ein zweiter Typ von Glossaren des klassischen Chinesisch entstand im 1. Jahrhundert u. Z. und ordnete die erfassten Schriftzeichen nach ihren Grundformen, den Zeichen für Wortstämme. Diese Glossare gaben keinerlei Hinweis auf die Aussprache der Wörter; ihr Hauptzweck bestand darin, die Interpretation alter Texte zu erleichtern. Der dritte Typ früher chinesischer Wörterbücher war das Reimlexikon – ein Handbuch für Menschen, die wissen mussten, was sich womit reimt, weil die Reimkünste bei den Prüfungen für Angestellte der kaiserlichen Verwaltung getestet wurden. Erst im 7. Jahrhundert entwickelte der Gelehrte Mei Ying-Tso eine Methode zur Klassifikation chinesischer Schriftzeichen, die das Wiederfinden von Einträgen wesentlich beschleunigte – nur wenige Jahre vor den ersten von jesuitischen Missionaren entwickelten zweisprachigen chinesischen Wörterbüchern nach westlichem Vorbild, mit denen Übersetzungen ins Lateinische und danach Portugiesische, Spanische und Französische möglich wurden. Traditionelle chinesische Wörterbücher, Lexika und Glossare verzeichnen nicht »den gesamten Wortbestand einer Sprache«, wie westliche Diktionäre das anstreben: Sie erfassen Schriftzeichen und ordnen sie nach Bedeutungsfeldern, Zeichenformen oder Lautung. Diese grundsätzliche Andersartigkeit verdeutlicht vielleicht, in welchem Maße die westliche Wörterbuchproduktion auch eine »regionale« Tradition ist, die von der Eigenart unserer Schrift herrührt.
    Wozu sind Wörterbücher da? Der Nutzen zweisprachiger Glossare liegt auf der Hand. Was jedoch ist der Sinn und Zweck eines einsprachigen Wörterbuchs? Aus der Tatsache, dass es überhaupt allgemeinsprachige Wörterbücher gibt, könnte man schließen, dass die betreffenden Sprecher ihre jeweilige Sprache nicht eben sehr gut beherrschen, ganz so, als sei das Englische, um das historisch erste Beispiel zu nennen, sogar englischen Muttersprachlern in gewissem Umfang fremd. Warum sonst sollten sie ein Wörterbuch benötigen, das ihnen die Wörter ihrer Sprache übersetzt? Das Konzipieren von etwas so Großem und Umfassendem wie dem Dictionnaire de l’Académie bedeutet, die Schriftform einer gesprochenen Sprache als etwas zu betrachten, das nicht nur von Ausländern gelernt und erforscht werden kann, sondern auch von denen, deren Muttersprache sie ist. Das ist ein merkwürdiger Gedanke, schreibt ein einsprachiges Wörterbuch per definitionem ja gerade das Sprachvermögen fest, das Benutzer des Wörterbuchs besitzen.
    Die zweite Voraussetzung, auf der ein Universalwörterbuch fußt, ist die, dass man ein Verzeichnis sämtlicher Wortformen einer Sprache überhaupt erstellen kann . Wir sind so gewöhnt an Universalwörterbücher, dass wir erst nach kurzem Innehalten begreifen, was für eine außerordentliche Sache sie sind. Zugegeben, Wörterbücher sind immer ein wenig veraltet, und sogar in den besten fehlt immer etwas, was wir gern darin gesehen hätten – aber noch weiter treiben sollten wir solche Einwände nicht. Den »gesamten Wortbestand einer Sprache« erfassen zu wollen ist so zwecklos wie der Versuch, alle Wassertropfen in einem fließenden Gewässer aufzufangen. Gelänge das, hätte man keinen Fluss mehr. Sondern ein Aquarium.
    Erst als Latein keine gesprochene Sprache mehr war, wurde es möglich, sämtliche im überlieferten Korpus lateinischer Texte vorkommenden Wörter zu erfassen.

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