Was macht der Fisch in meinem Ohr
ist auch an die Vorgaben von Mimik und Körperbewegungen gebunden, auch wenn sie sonst für Text in der Zielsprache keine Rolle spielen. Die Übersetzer der Dialogbücher in die Synchronsprache sind mehr als Athleten, sie sind Wortgymnasten von Weltklasse – deren Leistung in der englischsprachigen Welt aber kaum Anerkennung findet.
Die weltweite Popularität von englischsprachigen Filmen bedeutet, dass die meisten amerikanischen und britischen Produktionen in mehreren Fassungen für ausländische Märkte synchronisiert werden. Könnerschaft auf diesem Gebiet wird in Deutschland, Italien, Spanien und vielen anderen Ländern viel öfter nachgefragt und sehr viel mehr geschätzt. Eine Folge dieser sogar noch auf der Leinwand erkennbaren Asymmetrie ist, dass perfekte Lippensynchronität von nicht englischsprachigen Zuschauern nicht immer als unbedingtes Muss gefordert wird. Amerikanische und brasilianische Soaps werden im russischen Fernsehen häufig mit überlappenden Tonspuren ausgestrahlt (das heißt, der Dialog setzt sich über den Punkt hinaus fort, an dem die Lippenbewegungen der Figuren enden). Die Rollen werden in der Zielsprache aber meist von berühmten Schauspielern gesprochen. Die Stimme von »Robert de Niro« etwa kennt in Deutschland jeder – es ist die von Christian Brückner, der zudem ein preisgekrönter Sprecher von Hörbüchern ist und in der deutschen Medienlandschaft den Beinamen »The Voice« trägt. Meryl Streeps deutsche Stimme ist – in allen ihren Filmen – die von Dagmar Dempe; Gabriel Byrne wird seit Beginn seiner Karriere im Jahr 1981 von Klaus-Dieter Klebsch synchronisiert. Deutsche Kinobesucher wären irritiert, spräche Russell Crowe in seinem nächsten Blockbuster nicht mit der Stimme von Thomas Fritsch zu ihnen. 2 Die französischen Sprecher von Homer und Marge Simpson, Philippe Peythieu und Véronique Augereau stehen mit Bild in der Zeitung. 3 Nicht nur in dieser Hinsicht ist die Sprachkultur fast aller anderen Länder für englische Muttersprachler wirklich eine fremde Welt.
In Palästina verschwand das biblische Hebräisch als Alltagssprache der Juden lange vor der römischen Besatzung. Vielleicht schon vom 5. Jahrhundert v. u. Z. an lasen aramäische Dolmetscher eine Übersetzung der im Gottesdienst gesprochenen Worte sotto voce zeitgleich mit oder kurz nach dem Rabbi, der den Text in der älteren Sprache psalmodierte oder sprach. Später dann wurden die Worte dieser aramäischen Chuchotage (wie das Flüsterdolmetschen in der modernen Welt internationaler Dolmetscher genannt wird) schriftlich festgehalten, meist in kleinen Fragmenten. Diese Targumim sind heute kostbare linguistische und historische Zeugnisse für Judaisten. Für die Ausstrahlung moderner britischer und amerikanischer TV-Soaps und Comedy-Programme in den Sprachen Ost- und Mitteleuropas wurde das Targum -Verfahren – die Übersetzung wird leise aus dem Hintergrund eingesprochen – neu erfunden. Dieses Lectoring , so der heutige Name, versetzt englischsprachige Besucher Polens oder Ungarns regelmäßig in Erstaunen. Ein Bemühen um akustischen Realismus ist nicht im Ansatz erkennbar: Eine Stimme spricht für alle Figuren beider Geschlechter und der Ton des englischen Originals klingt hörbar durch.
Die Herstellung der für das Lectoring benötigten Texte ist offenbar billiger und geht schneller als das Synchronisieren, weil man mit kleineren Übersetzer- und Sprecherteams auskommt. Angesichts der Menge der in kleinere europäische Länder importierten englischsprachigen Medien dürfte es schwierig sein, so viele linguistische Trapezkünstler aufzutreiben, wie man brauchte, um alles lippensynchron zu übersetzen, solange die Programme noch aktuell sind. Lectoring ist daher eine vernünftige Lösung – auch wenn der Grund, so zu verfahren, nicht die Wirtschaftlichkeit ist.
Wie vor langer Zeit in den Synagogen von Palästina und Syrien wird Lectoring für Menschen gemacht, bei denen die Originalsprache hohes Prestige genießt. Heute wird Englisch als kultureller Aktivposten betrachtet und ist ein Objekt der Begierde. Wer die Sprache lernt, kann mit Lectoring prüfen, ob er alles richtig verstanden hat, und sein Englisch verbessern, während er den Film genießt. Der ungarische Zuschauer, der den Colbert Report verfolgt, möchte authentische amerikanische Comedy sehen, und der Sprecher des übersetzten Texts dient – wie der Dolmetscher, der bei einem Treffen von Staatsoberhäuptern die Chuchotage beisteuert
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