Was macht der Fisch in meinem Ohr
Seite-für-Seite-Übersetzungen (wobei immer auf etwa gleiche Satzlängen geachtet wird) sind keine »schlechten« Übersetzungen. Es sind sprachliche Verfahren mit begrenztem Anwendungsbereich, die für bestimmte kommunikative und didaktische Zwecke und nur dafür gedacht sind. Übersetzen ist nicht immer ein und dasselbe; das Wie hängt vom jeweiligen Wofür ab.
Das Zerlegen von Wendungen in ihre Wortbestandteile ist aber gar nicht gemeint, wenn etwas als wörtliche Übersetzung bezeichnet wird. Die sogenannte wörtliche Übersetzung von У меня большой дом ist nicht »Bei mir großes Haus«, sondern »Ich habe ein großes Haus«. Soll heißen, wenn etwas wörtliche Übersetzung genannt wird, handelt es sich dabei genau genommen um eine Version, die mit den in der Übersetzungssprache üblichen grammatischen Formen die Bedeutung erhält. Octavio Paz hatte recht, als er sagte, dass es so etwas wie wörtliche Übersetzung gar nicht gibt! Es ist nur eine Übersetzung – eine einfache, gewöhnliche, konkrete Übersetzung der Quelle. Der bei der frustrierend langen Partie Squash zwischen »wörtlich« und »frei« links angetretene Spieler ist gar nicht da. An seinem Platz steht nur der Schatten einer anderen, älteren Welt. Aber Schatten können ziemlich beängstigend sein, auch wenn man weiß, dass es sie gar nicht gibt.
12. MASSGESCHNEIDERT: DAS WORT IN FORM BRINGEN
Chinesen macht es Freude, per Flüsterpost shunkouliu zu verbreiten. Das sind rhythmisierte satirische Sprüche, die oft aus Vierzeilern mit jeweils sieben Silben bestehen. Die Regelmäßigkeit der Form ist hörbar und in der Schrift auch sichtbar, weil jedes chinesische Schriftzeichen einer Silbe entspricht. Dies ist ein Liedchen der beschriebenen Art:
Knapp, strukturiert, dicht, anspielungsreich, bitter und komisch … ein shunkouliu zu übersetzen ist kein Kinderspiel. Warum dann nicht von vornherein darauf verzichten? Doch auch wenn alles dagegenspricht, lässt sich diesem kniffligen Vers über die alte Garde des neuen China ein Kleid überstreifen, das hübsch aussieht und etwas aussagt, sogar in einer Sprache, die mit dem ursprünglichen Idiom nichts zu tun hat. Und so könnte es gehen, Schritt für Schritt.
1. Zeichen für Zeichen übersetzt
Hard hard bitter bitter four ten years
One morning return to untie release before
Already thus return to untie release before
Just-at year change fate in-fact for whom?
Hart hart bitter bitter vier zehn Jahre
Eines Morgens Rückkehr zu aufmachen Freisetzung vor
Schon folglich Rückkehr zu aufmachen Freisetzung vor
Genau-zu Jahreswechsel Schicksal in-Wirklichkeit für wen?
2. Wortgruppe für Wortgruppe übersetzt
Strenuous, strenuous forty years
One morning return to before Liberation
Given that return to before Liberation
In those days revolution in fact for whom?
Mühsal, Mühsal vierzig Jahre
Eines Morgens Rückkehr zu vor Befreiung
Und angenommen Rückkehr zu vor Befreiung
Damals Revolution eigentlich für wen?
3. Sinn für Sinn erklärt
An extremely strenuous forty years
And one morning we [find ourselves having] returned to before Liberation
And given that we’ve returned to before Liberation
[We might ask] who, in fact, the revolution back in those days was for
Vierzig Jahre nichts als Mühsal
Und eines Morgens [stellen wir fest] wir sind zurückgefallen zu vor der Befreiung
Und angenommen, wir sind zurückgefallen zu vor der Befreiung
[Könnten wir fragen] für wen die Revolution damals eigentlich war
4. Einfach übersetzt
An extremely strenuous forty years
And suddenly we’re back to before Liberation
Und given our return to before Liberation
Who, in fact, was the revolution for?
Vierzig Jahre nichts als Mühsal
Und plötzlich stehen wir wieder da wie vor der Befreiung
Und wenn wir wieder dastehen wie vor der Befreiung
Wem hat die Revolution dann eigentlich genützt?
5. Eine Prise Rhythmus hinzufügen
An extremely strenuous forty years
And suddenly we’re back to forty-nine,
And since we’ve gone back to forty-nine
Who, in fact, was it all for?
Vierzig Jahre nichts als Mühsal
Und plötzlich der Rückfall in die Vorzeit
Und wenn wir nun wieder in der Vorzeit sind
Wem hat das alles dann genützt?
6. Die Wörter an die chinesischen Silben anpassen
For forty long years ever more perspiration
And we just circle back to before Liberation
Und speaking again of that big revolution
Who, after all, was it for?
Vierzig lange Jahre flossen
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