Was man so Liebe nennt
der Tasche, mit der Selbstverständlichkeit und Beiläufigkeit, in der Männer so was tun. Was es so leicht machte, aber das wußte Vic nicht, war die Rückkehr der Zeitenfolge in sein Leben, bei der eine Handlung die nächste nach sich zieht; und mehr ist im Grunde nicht nötig, um aus Apathie und Starre zu erwachen: irgendein Wissen darum, daß etwas Folgen hat, gleich ob gute oder schlechte; die Erkenntnis, daß nach einer Begebenheit eine andere folgt, und daß sie miteinander verknüpft sind — kurz, das Gefühl, daß das Leben Kapitel hat. Aber Vic hatte wirklich keine Zeit, über all das nachzudenken, denn sowie er den Gegenstand in das schummrige Licht gehalten hatte, das durch seine vorhanglosen Fenster von den Apartments gegenüber in sein Wohnzimmer fiel, war er aufgesprungen, hatte seine auf dem Boden liegende Lederjacke geschnappt, war aus der Wohnung gestürmt und streckte dabei die ganze Zeit den Schlüssel zur Wohnung über dem Rock Stop vor sich her wie einen Pfeil.
Er stellte die Lambretta auf dem Bürgersteig vor dem Ladeneingang ab. Es regnete, und durch die mit Tropfen übersäte Scheibe waren die Preise der Gitarren nicht zu erkennen. Das Wetter in diesem Sommer hatte seinen Teil zu Vics Misere beigetragen, denn die Jahreszeiten schienen völlig durcheinandergekommen zu sein — der ganze Sommer war mit Winter-, Herbst- und Frühlingsstücken versetzt, was Vics Gefühl, daß die Zeit in sich zusammengesackt war, noch verstärkte. Bei Regen war die Lambretta eine noch härtere Geduldprobe als sonst — sie sprang schlechter an, man wurde pitschnaß, die Teile setzten Rost an — , und auf dem Herweg hatte Vic eine Stinkwut auf sie gehabt (was durch eine Depression nicht unbedingt verhindert wird) und wäre beinahe umgekehrt. Er tat es nicht — der Schlüsselfund hatte einen Energiestrom in ihm ausgelöst — , aber als er dann den Dinosaurier von Moped nach hinten auf den Hauptständer hieven wollte und dabei ausrutschte und sich die Knie aufschürfte, da war er so frustriert von der Banalität des Lebens, daß sein ganzes neu erwachtes Gefühl für Ziel und Richtung dahin war — wie bei einem Mann, der glaubt, er führe seiner Bestimmung entgegen, und plötzlich merkt, daß er in Wirklichkeit auf der A318 nach New Maiden unterwegs ist.
Innen in der Wohnung war es dunkler, als er in Erinnerung hatte; aber andererseits war er ja vorher nie so spät hier gewesen, außer einmal, und da hatte er geschlafen. Als er das Licht anknipste, blendete es ihn, und einen Moment tanzten ihm Blitze über die Pupillen.
Es hatte sich nicht viel verändert in den Zimmern, aber ohne die verklärende Wirkung heimlicher Liebe offenbarte sich ihre ganze Popeligkeit: Die Ausziehcouch wirkte kleiner, die Bettücher schmieriger, die Tapete schimmeliger und der Staub auf allen Oberflächen dicker als in Vics Phantasien. Einige Dinge kamen ihm völlig unbekannt vor, aber sie waren vorher nur seiner Aufmerksamkeit entgangen — er hatte kein Auge dafür gehabt, daß der Boden mit schwarzem, zerkratztem Linoleum bedeckt war oder daß über dem Waschbecken neben dem Bett eine deprimierende Flasche mit Flüssigseife hing. Er drückte den Stöpsel runter: Ein dicker Tropfen zäher heller Flüssigkeit quoll aus der Spitze, hing eine Weile dort und platschte dann in das Abflußloch. In einer Ecke des Waschbeckens, in einer viel zu kleinen, offenbar für die Miniaturriegel aus der Zeit der Rationierung entworfenen Ausbuchtung, lag der Grund, warum Vic die Seifenflasche vergessen hatte: ein Stück LUX-Seife, das Emma, wie er sich jetzt erinnerte, beim zweiten Treffen mitgebracht hatte. Er erinnerte sich, wie sie es aus der Verpackung geschält und auf den Waschbeckenrand gelegt hatte. Damals hatte er sich gefragt, was ihr Motiv dafür war — ob sie dem Raum durch dieses kleine Detail etwas Heimeliges geben wollte, oder ob sie ganz praktisch dafür sorgte, daß sie sich von den Körpersäften des anderen reinigen konnten, ehe sie zu ihren rechtmäßigen Partnern zurückkehrten — , aber jetzt wurde ihm klar, daß es weder das eine noch das andere war: Seife für ein verbotenes Liebesnest kaufen ist eine Aktion, die genau in der Mitte zwischen Heim-Bereiten und Heim-Zerstören angesiedelt ist.
Im schummrigen Licht des Schlafzimmers konnte Vic vage erkennen, daß noch Fingerabdrücke auf dem Seifenstück waren, so kleine, daß es nicht seine sein konnten. Er spreizte die drei mittleren Finger seiner rechten Hand und legte sie
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