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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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Professor Dewar bot einen überraschend wenig wohltuenden Ausblick auf Feuerleitern und Betonhöfe, die in das graue Licht des kläglichen englischen Sommers getaucht waren, eines Sommers, der das Land im Stich ließ.
    »Um ganz offen zu sein, Mr. Serena, ist dies der einzige Grund, warum ich bereit war, Ihnen diese Information zu geben — obwohl es gegen unser Berufsethos verstößt. Ich selbst würde sehr gern wissen, was aus Tessa Carroll geworden ist.« Sogar diese Bemerkung begleitete er mit einem Lächeln, aber nicht etwa einem traurigen über das ungewisse Schicksal seiner Patientin, sondern eher einem, in dem sich milde Selbstkritik spiegelte, weil er wieder mal bewiesen hatte, wie unverbesserlich neugierig er war. »Aber wie es scheint, sind wir beide so ungefähr auf dem gleichen Wissensstand.« Seine Hände bildeten ein Spitzdach vor seiner Brust. »Wir wissen, daß sie eine junge Frau mit Krebs ist, mehr nicht.«
    »Oder war...«
    Professor Dewar schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Selbst wenn sich der Krebs so schnell ausgebreitet haben sollte, wie Sie vermuten, glaube ich nicht, daß sie in sechs Monaten gestorben wäre. Und...« Er erhob sich, so deutlich als Abschluß des Gesprächs, daß auch Joe aufstand, »meiner Meinung nach hat sie einfach beschlossen, sich in irgendeinem anderen Krankenhaus behandeln zu lassen, und ist jetzt wieder daheim, weil ihre Symptome vorübergehend nachgelassen haben.«
    Über einen so dicken Perserteppich, daß Joe meinte, seine Schuhe hätten plötzlich doppelte Sohlen, gingen sie zu der schweren Eichentür. Professor Dewar öffnete sie und entließ Joe in den ungetäfelten, teppichlosen Flur.
    »Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht mehr helfen konnte...«
    Joe machte ein ergebenes Gesicht. »Sind Sie sicher, daß Sie sich an sonst nichts erinnern können, das vielleicht hilfreich sein könnte...«
    »Ich fürchte nein. Jammerschade natürlich um sie. Hübsches Mädchen. Aus guter Familie offenbar.«
    »Und medizinisch gesehen...?« beharrte Joe mit sanftem Nachdruck.
    »Ich glaube nicht.« Aber dann verließ Professor Dewars Lächeln plötzlich seine Grundposition und verwandelte sich in eins, das sein Gesicht aufhellte: »Warten Sie. Gerade fällt mir etwas ein. Eine unbedeutende Sache zwar, aber...«
    »Ja?«
    »Nun, ich untersuchte natürlich routinemäßig ihren Kopf. Und dabei fiel mir auf, daß er ganz oben an einer Stelle kahl war.«
    »Kahl?«
    »Ja.«
    »Glauben Sie, sie hatte vielleicht schon eine Chemotherapie hinter sich?«
    Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe mich gefragt, ob es sich vielleicht um ein ungewöhnliches Symptom ihrer Stirnlappengeschwulst handelte, aber als sie dann wegen der Ergebnisse zurückkam, wurde mir klar, was es war.«
    Jetzt stand ihm ein wirklich breites Grinsen im Gesicht, so als sei er jetzt erst richtig in seinem Element. Vielleicht waren obskure medizinische Anomalien ja sein Steckenpferd. Joe signalisierte dem Professor fortzufahren.
    »Nun, offenkundig war sie sehr nervös. Und mir fiel auf, daß sie die Angewohnheit hatte, sich an den Haaren oben auf dem Kopf zu ziehen. Sie zupfte sich sogar einzelne aus und spielte dann mit ihnen herum. Soweit ich feststellen konnte, tat sie das alles, ohne es zu merken. Es gibt einen bestimmten Namen für diesen Tick... Wie war er noch mal...« Er fuhr sich mit der Hand an die Stirn.
    »Trichotillomanie«, sagte Joe.
    »Genau!« rief der Professor und nahm die Hand herunter; sein zufriedenes Grinsen blieb ihm weiterhin treu, auch noch, als er sich ziemlich indigniert zu wundern begann, wie versteinert — ja, wie vom Donner gerührt — ihn dieser komische kleine Biochemiker ansah.

VIC

    V ic sass den ganzen Tag in seinem Wohnzimmer und wartete darauf, daß die nackte alte Frau auf ihren Balkon kam. Jeden Tag kam sie raus, normalerweise so gegen zwei, manchmal aber auch schon um zwölf und an anderen Tagen erst um halb sechs. Sie war immer nackt. Zuerst dachte Vic, daß sie vielleicht nur oben ohne war, da ihre untere Hälfte durch die Balkonverkleidung verdeckt wurde, aber neulich, als sie in ihren dunklen Flur zurückging, hatte er einen Blick auf ihre parallelogrammartigen Hinterbacken erhascht, und die waren auch nackt. Sie trat immer heraus, als wollte sie Wäsche aufhängen, aber sie machte ja nie welche schmutzig. Ihre Brüste waren riesige Gehänge, Brüste, die der abendländische Mensch heutzutage nur auf Brot-für-die-Welt-Plakaten sieht oder wenn er sich in extrem

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