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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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obwohl, soweit Vic sagen konnte, vielleicht auch bloß fünf Minuten vergangen waren, bemerkte er, daß er seine Hosen gewechselt hatte. Nicht, daß er sich zwischen seinem Warten auf die alte Frau und jetzt umgezogen hätte, nein, irgendwann heute hatte er sich andere Hosen angezogen. Als er das merkte, wurde ihm ebenfalls klar, daß er sich nicht erinnern konnte, wie lange er dieselben Kleider angehabt hatte, aber das war kaum verwunderlich, da er sich, im Augenblick, nicht auszog, wenn er ins Bett ging. Aber er wußte, daß er gestern abend schwarze Jeans getragen hatte, und jetzt hatte er blaue an.
    Er konnte sich nicht erinnern, wann er die schwarzen ausgezogen hatte, nahm aber an, daß er sie wahrscheinlich am Morgen auf der Toilette abgestreift hatte, oder eher andersrum; Sie hatten sich von ihm getrennt, als sie, um seine Füße schlotternd, in einem verkrumpelten Haufen auf dem Boden vor dem Klobecken lagen. Während er diesem Gedankenstrang folgte — der eher eine Spekulation als Erinnerung war schätzte Vic, daß er wahrscheinlich eine Weile in Unterhosen und Socken herumgelaufen war, und als er dann merkte, daß seine Beine nackt waren, hatte er sich die Hose hier geholt.
    Diese Erkenntnis — daß er andere Hosen anhatte — verschaffte ihm wenigstens den Einschnitt im Tag, den Punkt in der Zeit, der ihr Voranschreiten anzeigt, der ihm durch das Nichtauftauchen der nackten alten Frau entgangen war. Ohne solche Markierungspunkte, merkte Vic, verlor die Zeit jegliche Linearität; sie war kein Kontinuum mehr, das von neuen oder wiederkehrenden Ereignissen mit Maßeinheiten versehen wird, sondern eher ein schwarzes Loch, eine Sache ohne Chronologie; ganze Tage konnten in einem solchen Kollaps jeglicher Zeitabfolge vergehen.
    Seine neuen Hosen spornten ihn zu Aktivität an. Keiner großen, an üblichen Begriffen gemessen — nicht mal an Vics eigenen früheren — , aber da er sich den ganzen Tag buchstäblich nicht gerührt hatte, glich es doch irgendwie einer Herkulestat. Vic steckte die Hände in die Hosentaschen. Allein das erwies sich als unerwartet schwierig, denn als seine Hand langsam über den festen Jeansstoff glitt, fühlte er sich wie ein klebriges Hindernis an, und der Eingang in die Taschen war so eng, daß Vic einen Moment glaubte, sie wären zugenäht. Als er die Hände schließlich hineingebohrt hatte, kam er sich wie in der Falle vor, eingeklemmt in einen Schraubstock aus Stoff. Vic bekam leichte Panik, fürchtete, er kriegte die Hände nie mehr raus. Außerdem spürte er in der rechten Hosentasche einen Gegenstand, der ihn daran hinderte, seine Hand tiefer darin zu vergraben — denn das war Vics Ziel: einfach die Hände in die Taschen stecken (typisch, daß die einzige Tätigkeit, die er sich für heute vorgenommen hatte, das Sinnbild von Untätigkeit war). Erstaunt stellte er fest, daß tatsächlich etwas in seiner Tasche war: Zu Vics Motivationskonzept von Hände in die Tasche stecken gehörte nicht, daß man eventuell etwas darin suchte. Hosentaschen dienten ihm schlicht als Hängematten für die Hände.
    Seine Finger spürten etwas Hartes und Kaltes. Vic betastete es eine Weile, wie gebannt von der Empfindung: Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, seit seine Fingerspitzen mit etwas anderem als Luft in Berührung gekommen waren. Und so zart wie das kaum hörbare Summen eines Insekts unter einem riesigen Stein regte sich eine andere Empfindung in ihm, der er lange nicht mehr begegnet war: Seine Neugier war erwacht. Er überlegte, was es sein könnte, das Ding in seiner Tasche. Und dann erriet er es.
    Unter Aufwand all seiner Kräfte — so kam es Vic jedenfalls vor — grub er seine Hand so tief in die Tasche, daß er das harte kalte Ding mit den Fingern umschließen konnte, und merkte dann, daß es außerdem dünn war und an einer Seite gezackt. Jetzt wußte er, was es war — aber nicht, ob er es herausziehen sollte oder nicht. Er dachte eine Weile darüber nach, denn es hervorzuholen ergab bloß einen Sinn, wenn er es auch benutzte, und er wußte nicht, welchen Sinn das haben sollte. Trotzdem: Zum ersten Mal seit vielen Monaten hatte er etwas getan — die Hände in die Hosentaschen gesteckt — , das, wenn auch nur durch Zufall, zu irgendeinem Ergebnis geführt hatte. Deshalb sagte er sich, jetzt sollte er es auch zu Ende bringen. Wieder mobilisierte er all seine Kräfte, weil er glaubte, es würde ihn unendliche Anstrengung kosten, aber dann war es ganz leicht: Er zog es einfach aus

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