Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
Vom Netzwerk:
sanft in die Dellen. Ganz sanft, wollte nur berühren, was ihre Finger berührt hatten, wollte seine Fingerspitzen auf ihre legen und diese Spur von ihr spüren. Aber Zeit und Wasser hatten den Riegel aufgeweicht, die weiße Oberfläche war wie Brei, und seine Fingernägel versanken in dem L und X.
    Er spülte sich die Hände ab und wanderte hinüber in den anderen Raum. Als er den Lichtschalter anknipste, merkte er, daß die Glühbirne kaputt war, aber er fand sich auch so zurecht; selbst in dem Dämmerlicht konnte er Formen und Umrisse deutlich erkennen. Aus irgendeinem Grunde hatte er erwartet, daß die Möbel und die über die Zimmer verstreuten Instrumente mit enormen weißen Tüchern verhängt wären, so wie in Filmen, wenn Leute in lange unbewohnte Häuser zurückkehren, aber so war es nicht, und das brachte ihm zu Bewußtsein, daß diese Wohnung immer vor allem ein Lagerraum gewesen war und immer sein würde, ein Aufbewahrungsort. Aber keiner von einem sonderlich erfolgreichen Geschäft, dachte Vic, denn als er zwischen den Instrumentenkoffern herumwanderte, fiel ihm auf, daß praktisch noch alle da waren, wie bei seinem letzten Besuch hier vor sechs Monaten.
    Nur in der Mitte des Raums, da, wo sie die Harfe gegen einen Stuhl gelehnt hatte, stand jetzt eine große Holzkiste. An der Vorderseite war ein DIN A4-Blatt mit einem Tesafilmstreifen diagonal festgeklebt. Mit zusammengekniffenen Augen las Vic: »Liefern an: Mr. P. Drake, 5 Wolleston Gardens, SE 2«. Plötzlich wurde er von dem Wunsch überwältigt, die Harfe zu sehen. Er begann an den Latten des Deckels zu zerren, aber auch mit seinen eisenharten Fingernägeln richtete er nichts aus, sondern handelte sich bloß einen Holzsplitter unter seinem immer noch seifigen Mittelfingernagel ein. Er setzte sich auf einen schwarzen, auf der Seite liegenden Gitarrenkoffer, direkt in die Ausbuchtung unterhalb der oberen Kurve. Er starrte eine Weile auf die Kiste und überlegte, was er tun sollte. Dann, weil er keine Uhr anhatte, überlegte er, wie spät es wohl war, und zum Schluß, ob die Harfe der Grund war, warum er hergekommen war.
    Nach einer Weile erkannte er den Koffer wieder, auf dem er saß. Er stand auf und kippte ihn behutsam um, so daß er flach auf dem Boden lag. Er ließ den Goldverschluß aufschnappen: Wie ein Embryo in einem Kitschbauch lag innen die Gretsch Chet Akins 1600, die Perlmutteinlegearbeit auf ihrem Hals schimmerte milchig in dem schwachen, vom anderen Raum hereinfallenden Licht. Welche Schönheit, sogar im Dunkeln! Er nahm sie hoch und spielte einen G-Akkord, dann einen A-Moll und D-sieben: der Anfang von »Shop Girl Queen«. Wie bei allen halbakustischen Gitarren war das Wort »halb« eine Übertreibung, und die Saiten klangen so blechern und hohl, wie sie mit Verstärker voll und satt geklungen hätten. Vic ließ den Sinuskurvenkorpus der Gretsch von seiner Hüfte gleiten und umfaßte sie mit der linken Hand am Hals. Er betrachtete die Gitarre ein paar Sekunden, und selbst durch die schwere Decke seiner Depression empfand er immer noch die schiere reine Bewunderung. Dann legte er ihr auch die rechte Hand um den Hals, umklammerte ihn fest mit beiden Händen, schwang sie sich über den Kopf und ließ sie mit voller Wucht auf den Kistendeckel sausen.
    Das weiße Schlagbrett flog sofort ab, und ein Teil des Holzes um den unteren Teil des F-Lochs zersplitterte; immerhin war auf dem Kistendeckel eine deutliche Kerbe zu sehen. Das spornte Vic an, er holte noch mal aus und ließ sie wieder auf den Deckel krachen, wobei ihm einfiel, wie er als gitarrenverliebter Teeni Pete Townshend für solche Gags immer gehaßt hatte. Diesmal flogen beide Tonabnehmer aus ihren Halterungen wie ein paar auf Federn sitzende Comedy-Augen, und das ziselierte silberne Tremolo schlingerte durch die Luft wie das Messer eines Zirkuswerfers. Vic war klar, daß er wahrscheinlich nur noch einen Versuch gut hatte, und so schwang er die Gitarre diesmal so weit nach hinten, daß er spürte, wie ihr Rumpf seinen berührte, und schleuderte sie dann in großem Bogen wieder nach vorn, sprang im selben Moment hoch, um die Wucht zu verstärken. Holz krachte, Vic wußte nicht, wo; es explodierte nur so um ihn herum. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er nur noch den Hals der schönen Gitarre in der Hand; der Korpus war abgebrochen und steckte im Kistendeckel, ragte mit dem Rumpf aus den zerbrochenen Holzlatten heraus. Es sah aus wie das Cover von einem 1970er-Album, ein

Weitere Kostenlose Bücher