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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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    »Warten« ist eigentlich nicht ganz das richtige Wort. Denn »Warten« beinhaltet Erwartung und ließe in diesem Fall vielleicht an irgendeine perverse Neigung denken, aber das wäre falsch gedacht. Vic saß vor dem Fenster in seinem Wohnzimmer, von dem aus er ihren Balkon sehen konnte, aber eigentlich wartete er nicht auf sie, sondern eher auf den Zeitpunkt, oder genauer: den Punkt in der Zeit. Denn wenn er den ganzen Tag ohne sich zu rühren dasaß und auf die schmuddeligen Mauern des Apartmentblocks gegenüber sah, war das Auftauchen der alten Frau das einzige, was einen Moment vom nächsten unterschied und das Fortschreiten der Zeit deutlich machte. Es durchbrach die Trance.
    Um viertel vor sieben fing es an dunkel zu werden. Kommt heute nicht, dachte Vic schließlich. Weg, wie all die anderen Frauen in meinem Leben. Er überlegte aufzustehen, fragte sich aber dann, wohin er gehen sollte, wenn er einmal auf den Beinen war. Kein Grund, in die Küche zu gehen, dachte er: Es gab nichts zu essen dort, außerdem war er nicht hungrig — seit Wochen hatte er schon keinen Hunger mehr, schien ihm. Im Schlafzimmer gab es auch nichts zu tun — es war zu früh, ins Bett zu gehen, und davon abgesehen war es mit dem Schlafen jetzt so ähnlich wie mit dem Essen, beides bekam er nicht, aber es lag ihm auch nicht viel daran. Das letzte Mal, als er geschlafen hatte, hatte er geträumt, er triebe auf dem Meer und verdurste, und so weinte er und versuchte, seine eigenen Tränen zu trinken, merkte aber, daß es nicht ging, weil sie auch Salzwasser waren. Zum Fernseher rübergehen und ihn anstellen konnte er sich auch schenken — gleich kämen die Nachrichten, und er hatte sich nie sonderlich dafür interessiert, was in der Welt vor sich ging, und jetzt schon gar nicht. Und was sollte er im Badezimmer, für wen sich sauberhalten? Vor ein paar Wochen — oder war es erst gestern? — hatte er gebadet und ein Buch in der Wanne lesen wollen, aber es war ihm aus den Händen ins Wasser gerutscht, und wenn jetzt sein Blick darauf fiel, wie es mit verdellten, zusammengeklebten Seiten auf den Fliesen lag, mußte er bloß wieder daran denken, wie endgültig Unfälle sind, wie irreparabel der Schaden. Der einzige Ort, an den es sich noch zu gehen lohnte, war die Toilette, aber im Grunde konnte er sich auch das sparen, bleiben wo er war und sich vollmachen. Wenn ich nichts mehr esse und trinke, dachte er, erübrigt sich auch das wahrscheinlich, und dann kann ich einfach ewig nur hier sitzen.
    Wie offenkundig die Diagnose auch erscheinen mag, Vic wußte nicht, daß er an einer tiefen Depression litt. Er wußte natürlich, daß er traurig war und immer noch oft wegen Emma weinte und ihm, in einer anderen emotionalen Abteilung, Tess fehlte, aber da er schon immer ein hartgesottener Faulenzer war, erkannte er das Hauptsymptom der Depression nicht: die Unfähigkeit, sich zu rühren (Leute, die nie eine Depression hatten, kennen es meistens nicht, weil sie glauben, es handele sich einfach um eine Art Freudlosigkeit). Vics jetziger Zustand unterschied sich also im Grunde nicht allzusehr von seiner üblichen eingefleischten Abneigung gegenüber Aktivität, und so zündete bei ihm auch kein Funke; er merkte weder, in welchem Zustand er war, noch, daß er überhaupt in einem war. Mit all den anderen Worten für Depression — sich niedergeschlagen, bedrückt, zerschmettert oder schwermütig fühlen — wäre Vics Zustand genauso treffend beschrieben, denn Vic hatte buchstäblich das Gefühl, als sei der Luftdruck um ihn herum höher, als er sein sollte, so als sei er tief, tief unter Wasser, oder so — manchmal sind eingefahrene Sprachbilder einfach die genauesten —, als läge ihm eine Riesenlast auf den Schultern. Und wenn er tagelang dort vor dem Fenster saß, stellte er sich dieses Gewicht manchmal als Amboß vor, oder auch als einen Comic-Zehntonnenstein, der an der Unterseite so behauen war, daß er sich genau seinem Oberkörper anpaßte, so daß der Brocken, wenn Vic aufstand, sich sozusagen von ganz allein mit ihm erhob — das heißt, mit enormer körperlicher Anstrengung von seiten Vics, aber ohne ihm von den Schultern zu rutschen, weshalb er bei jedem Schritt, den er tat, das gleichmäßig verteilte Schwergewicht mit sich herumtrug.
    Und doch war es ein Zustand, der sich, als Vic sich erst einmal darin eingerichtet hatte, nicht sehr viel anders anfühlte als früher oft.

    Viel später,

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