Was man so Liebe nennt
für den New Musical Express interviewt hatte.
»Hallo, Chris«, sagte Vic.
»Hab dich ja eine Ewigkeit nicht gesehen!« schrie Chris Moore. Sein Atem roch, als sei dies nicht die erste Runde des Abends, die er holte. Seine Augen waren so blutunterlaufen und triefig, daß Vic sich schon nach jemandem umschauen wollte, der vielleicht ein Blitzlichtfoto schoß.
»Und? Wie läufts?«
»Gut«, gab Vic die Standardantwort auf diese Frage, verspürte aber plötzlich den Drang, diesem Kerl, den er kaum kannte, zu erzählen, daß es nicht gut lief, daß seine heimliche Geliebte vielleicht Krebs hatte. Immerhin war er froh, daß er von der Warterei vor der Bar abgelenkt wurde. Seit Emmas Anruf, das merkte er selbst, irritierte ihn jede Art von Warten, war er dreifach ungeduldig in Verkehrsstaus oder Schlangen — gestern war er sogar auf der Toilette ausgerastet, weil er fünf Minuten brauchte, bis er die erste Abrißstelle an einer neuen Klopapierrolle fand. So als wüßte er, daß Zeit plötzlich eine abnehmende Größe geworden war. Auch als er am Dienstag zum Rock Stop fuhr, hatte er genau dieses Gefühl gehabt, daß die Zeit sich immer mehr zusammenzöge, in sich zusammenschrumpfte, und durch diesen Zerrspiegel die kleinste Verzögerung zu einer enormen wurde. »Und du? Immer noch bei der Zeitung?«
»Nicht wirklich. Ich bin jetzt Redakteur bei Jack. Das paßt, dachte Vic. Jack war ein Neuzugang auf dem blühenden Sind-wir-nicht-frech-Zeitschriftenmarkt; das Blatt spezialisierte sich darauf, die Themen abzuhandeln, die für die Konkurrenz zu seicht waren. Die paar Mal, die Vic eine dieser Gazetten gelesen hatte (wirklich nicht oft: Vic haßte Zeug, das Pornographie sein wollte, aber keine war), hatte er mehr als einen Verfassernamen aus den Tagen wiedererkannt, als er selbst noch Kontakt zur Musikpresse hatte — Männer, die in ihren Zwanzigern political correct sein mußten, um als rebellisch zu gelten, und die sich jetzt political incorrect gaben, um als rebellisch durchzugehen, statt zu erkennen, daß es das einzig Würdige war, nicht mehr den Rebellen zu spielen. »Aber hin und wieder schreib ich noch was für den NME. Kann ich was dafür, wenn ich immer noch ein verdammter Rock and Roll-Fan bin?«
An dem Punkt fiel Vic wieder ein, was für ein Riesenarsch Chris Moore schon immer gewesen war. Nicht einfach ein Arsch. Er lag außerhalb des Arschometers.
»Wirklich, ich fahr immer noch drauf ab. Neulich hab ich mir sogar überlegt, ob ich mir nicht eine elektrische Gitarre zulegen soll...«
»Na, ich muß jetzt weiter an die Bar«, murmelte Vic
»Klar, Mann«, sagte Chris Moore. »Oh! Eh du von dannen ziehst ...«
»Ja?«
»Ich hab ein bißchen was dabei«, sagte er und blinzelte. Allen Ernstes — er blinzelt, dachte Vic und starrte auf Chris’ vierzigundnochwas alten, zur Glatzentarnung kahlrasierten Kopf. »Ich geh jetzt aufs Klo und gönn mir ein bißchen. Wenn du Interesse hast...«
Vic drehte sich der Magen um, zum Teil, weil Chris Moore so eine traurige Gestalt war und immer noch dahinter her war, mit Rockstars Drogen zu nehmen, sogar mit solchen, die es nie richtig geschafft hatten und deren letzter professioneller Auftritt ein Jingle für Talk Radio gewesen war. Zum Teil aber auch, weil er wußte, daß er ja sagen würde.
»Warte, ich hole nur grad den Drink für meine Freundin und...«
»Ich treff dich in fünf Minuten an der Musikbox«, sagte Chris Moore und verschwand, schnell und geschmeidig, wie einer, der meint, er hat was wirklich Cooles gesagt, und es mit einem famosen Abgang noch überbieten will.
Tess bemerkte kaum, wie Vic ihr den Tequila reichte, weil sie manisch hierhin und dorthin guckte und alles auf sich wirken ließ. Das tat sie immer ab einem bestimmten Alkoholpegel.
»Ähmm... ich geh nur schnell zur Toi—«
»Guck dir das an«, sagte sie und zeigte auf einen Aushang an der Wand neben ihrem Ecktisch. Es war ein weißes, fotokopiertes Blatt mit den Worten Gedichtabend über der Karikatur von einem Mann mit einem großen Buch und Federkiel. Jeden Dienstag, Teilnahmegebühr 3.00 Pfund schrieb er. »Was für eine dämliche Idee. Entschuldige, aber sind wir hier vielleicht im Jahr 1982? So ein Schrott!«
»Jaah. Na, ich geh nur mal schnell...«
»So zu tun, als war das hier der ideale Ort für die Förderung der Poesie. Jaah, man kann sich’s förmlich vorstellen, wie Sylvia Plath auf der mickrigen Bühne da drüben Auszüge aus Ariel liest, während die Leute dem Barkeeper
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