Was man so Liebe nennt
linken. Vic lehnte mit ihrem Kissen im Rücken gegen das Kopfteil des Betts.
»Ich sagte, seit wann betrinkst du dich allein?«
Sie nahm die Tabletten. Ihr süßer Zuckerfilm vertrieb den sauren Geschmack trunkenen Schlafs auf ihrer Zunge. Sie spülte die Pillen gierig mit Leitungswasser hinunter. »Seit du beschlossen hast, mich zu verarschen und mir mit irgendwelchen dämlichen Ausreden zu kommen«, sagte sie und wischte sich über den Mund.«
»O Tess ...«
»Was?«
»Ich dachte, das hättest du mir verziehen.«
»Wirklich. Warum?«
»Weil du dich zu freuen schienst, als du merktest, daß ich neben dir im Bett lag.«
Tess sah ihn an. Mir war nicht klar, daß du es bist, dachte sie. Aber Vics Bemerkung dämpfte ihren Ärger, machte ihr klar, daß sie selbst nicht mehr all die hochmoralischen Karten in Händen hielt, und so antwortete sie ihm zwar immer noch streitsüchtig, aber in weicherem Ton.
»Na ja... Ich war ja noch im Halbschlaf. Ich hatte gestern abend ganz vergessen.«
Vic tat sein Bestes, ein beschämtes Gesicht aufzusetzen, was nicht so leicht war, da Scham in seiner genetischen Grundausstattung nicht vorkam.
»Es tut mir leid. Wirklich. Aber der Roller hat mich wirklich im Stich gelassen.«
»Nur der Roller?«
Vic runzelte verständnislos die Stirn und schwieg, weil das seiner Einschätzung nach am ehesten die Gestik des wahrhaft Unschuldigen war.
»Ach, scher dich zum Teufel«, schnaubte Tess. »Komm mir nicht mit so einem Gesicht! Um die Wahrheit zu sagen, komm mir am besten mit gar nichts mehr. Ich habe wirklich keine Lust auf dieses Gespräch.« Sie drehte sich zum Schlafzimmerfenster um und hob schwunglos einen der Musselinvorhänge an. Als dann die Dielen hinter ihr knirschten, drehte sie sich nicht um, obwohl es durchaus heißen konnte, daß Vic seine Kleider einsammelte und ging; trotzdem, sie rührte sich nicht, und dann konnte sie nicht gegen die in ihr aufsteigende Welle von Erleichterung an, als sie seine Hand auf ihrem Haar spürte.
Sie drehte sich um, und er preßte seine Lippen auf ihre. Sie ließ ihn gewähren, und dann öffneten sich ihre Münder zu einem jener Küsse, die wie ein Veto sind, dazu gedacht, kritische Momente in einer Beziehung auszulöschen. Sie zogen den Kuß endlos in die Länge, so als fürchteten sie sich davor, was jenseits davon lag.
Es war Tess, die zuerst die Augen öffnete, als das Telefon klingelte. Sie sah, wie Vics Lid sich hob und in seinen schwarzen Pupillen ein dunkles Lachen glühte. Sich zu nahe, um mit Gesichtsmimik zu kommunizieren, blieb ihnen nur die Sprache ihrer Iris. Vic schüttelte den Kopf, wobei er ihren mitbewegte, aber das brachte Tess zum Lachen, und ihre zusammengeklebten Münder lösten sich. Als sie an ihm vorbei zum Telefon auf dem Nachttisch ging, packte Vic sie am T-Shirt und zog es wie ein Segel zu sich hin, aber sie lief weiter und entriß es ihm.
Sie setzte sich aufs Bett und streckte die Hand nach dem Hörer aus, aber Vic, der auf die Matratze hinter ihr gehechtet war, hatte ihn sich schneller geschnappt.
»Der gewünschte Teilnehmer ist im Augenblick nicht erreichbar oder spricht auf einer anderen Leitung«, sagte er mit einer hohen, förmlichen Frauenstimme. Tess guckte grimmig und ballte die Hand zu einer Was-fällt-dir-ein-Faust; er schob sie grinsend fort. Er wollte den Scherz zu Ende spielen und dann den Hörer neben die Gabel legen. Tess würde ihm schon verzeihen. Aber nach einer Sekunde zerfranste Vics Lächeln an den Rändern.
»Joe?« sagte er. Tess fühlte, wie ihr das Herz sank.
»Jaaah. Nein. Entschuldige. Hab nur Quatsch gemacht. Ist alles in Ordnung?«
O Gott, dachte Tess. Schon ruft er an! Ich fürchte, die Sache wird ziemlich kompliziert.
JEROME
L ondon hat mehr Grün als Grau . Es besitzt mehr Parkflächen als irgendeine andere Stadt auf der Welt, und dazu in solcher Vielfalt: die akkurat gestutzte Mustergültigkeit des Regent’s Park, die nordumbrische Wildnis von Hampstead Heath, die flachen Ebenen von Battersea und Hyde, der exotische Dschungel von Richmond — so als wäre jeder Generation von Städteplanern mit immer größerem Entsetzen gedämmert, daß die Stadt, die sie erschaffen hatten, allmählich zum Moloch wurde — zur City, zur Metropolis schlechthin. Und deshalb hatten sie alles darangesetzt, sie in Schach zu halten, indem sie sie mit Landschaft vollstopften, jeder denkbaren Form von Landschaft.
Als Folge dieses Begrünungswahns wurden einige Parks sehr nah an der Stadt
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