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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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Vorbeidonnern, zwei oder drei gleichzeitig schrillende Hupen? All das hätte nicht vermocht, Jerome aufzustören. Das waren Unter-der-Schwelle-Geräusche, die sein Bewußtein nicht verarbeiten mußte; sie gehörten zum alltäglichen Straßenlärm und ließen sich leicht in den Schmelztiegel des Hintergrundgetöses einblenden. Gerade war ein Quietschen von Rädern oder Bremsen zu hören, so als böge ein Auto mit Hochgeschwindigkeit rechtwinklig ab. Es war ein Quietschen, wie es nur Tiere und nach ihnen benannte Autos von sich geben, ein schriller Ton, ein Notsignal — ein so deutliches, daß die meisten Leute im Park sich umblickten, weil sie in der Nähe Gefahr witterten. Aber zu Jeromes innerem Ohr stieß es immer noch nicht vor. Es durchbrach seine Trance nicht.
    Aber der Knall tat es. Er durchschlug seine innere Mauer im selben Moment wie die des Parks. Weil all das Motorengeheul und Hupen und Quietschen unterhalb seiner Wahrnehmungsschwelle geblieben war, fehlte Jerome im ersten Moment der Zusammenhang für den Knall. Er konnte sich keinen Reim darauf machen und glaubte, daß vielleicht ein Meteorit eingeschlagen oder eine Terroristenbombe in der Nähe hochgegangen war. Er wollte aufstehen und wegrennen, konnte sich aber nicht entscheiden, in welche Richtung, da er nicht gemerkt hatte, daß der Knall hinter ihm losgegangen war, auf der Straße. Das Geräusch selbst gab ihm keinen Anhaltspunkt, da es aus allen Richtungen zu kommen schien.
    Der Knall war so laut, daß er das Gefühl hatte, es würde ihm wohl nie wieder gelingen, seinen Hörsinn dicht zu machen: Die Tür dazu konnte er abschreiben, die war endgültig aus den Angeln gehoben. Aber ehe er die Chance hatte, sich wirklich deshalb zu grämen, begannen seine anderen Sinne verrückt zu spielen, reagierten wie rebellisch auf all die Reize, so als hätte er sie zu lange unterjocht. Er spürte, wie eine Wolke aus Hitze und Staub auf ihn niederging, seine Haut sich mit Hitzeblasen überzog, in denen der Staub sich festsetzte. Seine Nase zuckte beim Verbrannter-Kuchen-Geruch der Wollfasern seines Mantels — oder war es sein Haar, das versengte?
    Inzwischen war ihm klar, daß das Verhängnis, was immer es war, hinter ihm geschah. Dreh dich nicht um, dachte er durch seine Schmerzen. Nicht! Jerome kannte schlimme Gerüche, schlimme Geräusche und schlimme Schmerzen — was, zusammengenommen, der Grund dafür war, warum er jeden Tag in diesem Park saß und den autistischen Tommy spielte —, aber er wußte, daß Anblicke am schlimmsten waren. Ein schlimmer Anblick war die Sache außerhalb des eigenen Kopfs, die sich, wenn man sie erst an sich herangelassen hatte, ein für allemal im Kopf festsetzte, und das wollte er wirklich vermeiden. Ungefähr zwanzig Meter vor ihm liefen mehrere Leute zusammen, legten die Hände über die Augen und wiesen hinter ihn. Da jetzt sein Gehörgang offen war, hörte er, wie einige schrien und ein Mann versuchte, mit seinem Handy einen Krankenwagen zu rufen. Dreh dich nicht um! Ein junger Mann in Jogginghosen lief auf ihn zu und gestikulierte wild, er solle die Bank verlassen.
    Langsam erhob sich Jerome. Er hatte nicht mehr viel mit Leuten zu tun, und es war ein sonderbares Gefühl, daß man ihn einschließen wollte, ihn umwarb, sich einer Gruppe zuzugesellen. Er tastete neben sich nach seiner Thermosflasche und sah dann, daß sie auf den Boden gefallen war, zwischen dem Rasen und dem betonierten Joggingpfad lag. Er bückte sich, um sie aufzuheben. Die Schreie der Menge wurden lauter. Dreh dich nicht um, schienen sie ihm zuzurufen. Aber als er sich bückte, erhaschte er aus dem Augenwinkel den unteren Rand des Bilds: ein Schaft brennenden Metalls, ein Halbkreis zerbrochenen Glases, viele Backsteine, und, schrecklich, ein auf dem Boden liegender Arm, ein nackter Arm mit schmalen Reifen am Handgelenk. Da war es zu spät. Er wußte, daß sein mit Alpträumen bepflanzter Geist das ganze Bild von diesem Unterrand her aufbauen würde — wie bei den gebeamten Figuren in Star Trek, seinem Lieblingsprogramm, als er noch Fernsehen guckte. Die ganze Szene prägte sich bereits seinem virtuellen Gedächtnis ein. Er konnte sich also genausogut umdrehen.
    Er hob die Thermosflasche auf und steckte sie in seine Manteltasche. Langsam und mit einem Gefühl von Resignation — all die Jahre, die er die Augen von schlimmen Anblicken abgewandt hatte, umsonst, umsonst — drehte er sich um. Aber was er dann sah, die zerquetschen Überreste eines

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