Was man so Liebe nennt
herum.
»Was wohl heißt, daß du nicht mehr heimfahren kannst«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.
JOE
M anchmal weiss man nicht, wie man irgendwo gelandet ist. Oft setzt die Erinnerungslücke bei einer kurze Zeitspanne ein: Man weiß nicht mehr, wie man von Pub heimkam, wie man’s in letzter Minute durchs Drehkreuz zum Zug schaffte, wie man auf die Nase fiel. Und manchmal — seltener — ist es eine lange Zeitspanne, die im Gedächtnis eine Leerstelle ist: Man weiß einfach nicht, wie es passieren konnte, daß man gestern noch ein Schulkind mit ewig laufender Nase und in die Schuhe gerutschten Socken war und heute Grafiken auf Schautafeln präsentiert und Affären mit Frauen in blauen Kostümen hat.
Und manchmal weiß man es kurz- und langfristig nicht: beispielsweise, wie man mit der Freundin seines besten Kumpels im Bett gelandet ist.
Aber Joe wußte, wie es passiert war. Er war betrunken gewesen, klar, aber das war keine Entschuldigung. Ein dummer Spruch, der jedoch in Joes Fall zutraf: Es war wirklich keine Entschuldigung. Niemand vergißt sich völlig, wenn er trinkt. Im Grunde kann man anstellen, was man will, um sich total zu vergessen — trinken, Drogen nehmen oder durchknallen — , es gelingt nie ganz: Jeder bleibt sich dabei sozusagen immer noch selber treu. Vic auf Koks war halt auf Vic-Art zugekokst, Emmas Mum hatte Alzheimer in der Emmas-Mum-Version, und Joe betrank sich an dem Abend auf Joe-Weise — das heißt, es gab keinen Punkt, an dem er nicht mehr mitgekriegt hätte, was vor sich ging, nie verlor er die Konrolle über sich. Ein Teil von ihm war immer noch hellwach.
Und wenn Joe — tief im Innern ein Puritaner mit der dazugehörigen Portion Masochismus — sich nicht den Pauschalfreibrief des Trunkenseins ausstellte, welche Ausrede blieb ihm dann noch? Er durchstöberte seinen Kopf nach einer, während er in der über London heraufziehenden Morgendämmerung durch die Old Kent Road zurück nach Greenwich fuhr.
Nach Tess’ Bemerkung übers Heimfahren hatte er, um ehrlich zu sein, wie erstarrt auf seinem Sessel gesessen und sich nicht vom Fleck gerührt: Er war nicht etwa, so wie manche Männer es auf eine solche Einladung hin getan hätten, schnurstracks zum Sofa gesprungen, um ihren Mund mit seinem zu bedecken. Aber andererseits war er auch nicht wie manch andere Männer — jene anderen, in deren Vennsches-Diagramm-Zentrum Joe sich immer gesehen hatte — verlegen aufgestanden, hatte etwas von Taxi rufen gestottert und sich eiligst auf den Weg gemacht. Statt dessen hatte er einfach abgewartet, reglos dagesessen, während die Welt sich um ihn herum weiterdrehte, gewartet, bis Tess aufstand, seine Hand nahm und ihn stumm und feierlich zum Schlafzimmer führte.
Als er sich Blackheath näherte, hielt er an einem Fußgängerüberweg. Die Ampel war rot, aber niemand war am Straßenrand zu sehen, das Verkehrssystem trieb sein eigenes Spiel, Morgengeister drückten auf Silberknöpfe und ließen den grünen ausschreitenden Mann aufleuchten. Joe wartete, bis die Ampel auf Gelb schaltete, ehe er losfuhr, er war schließlich immer noch ein gesetzestreuer Mann.
Immerhin konnte er sich in die düstere Entschuldigung flüchten, den männlichen Aufschrei: Aber meine Frau will nicht mehr mit mir schlafen. Bei dieser Ausrede war Joe ein bißchen wohler, vielleicht weil er, wie alle Moralisten, zur Rechfertigung neigte (paradoxerweise, denn obwohl die Amoralischen viel größeren Flurschaden anrichten, empfinden sie nie das Bedürfnis, sich zu rechtfertigen). Hinzu kam natürlich, daß er von Tess’ plötzlicher Nacktheit völlig überrumpelt gewesen war, von ihrem Fleisch auf seinem, da erst spürte, wie verzweifelt er sich nach solcher Berührung sehnte, wie verzweifelt er sie vermißte. Er war überrascht, als welche Erlösung er es empfand, so wie die Intensität der Befreiung eines Junkies nach einem Schuß ihm erst zu Bewußtsein bringt, wie schlimm er auf Entzug war.
Aber als Joe jetzt an dieses Gefühl dachte, jenen Augenblick absoluter Erlösung, als er, im Therapiesprech, losließ, erinnerte er sich auch an den tiefen Frieden, der sich nach diesem flüchtigen Moment in ihm ausgebreitetet hatte — und dann geschah noch etwas: Tess hörte plötzlich auf, ein bloßer Ersatz für Emma zu sein und als Lückenbüßerin den Abgrund von Joes Verlangen auszufüllen. Sie verwandelte sich in das genaue Gegenteil — die Verkörperung von Verschiedenheit. Der pure Unterschied berauschte Joe. Er
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