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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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Hinterkopf: Etwas hat mich im Stich gelassen.
    Er kannte schlimmere Momente von Verlassenheit, aber das chronische Gefühl seit Emmas Tod, der unterschwellige Grundton, war sehr ähnlich: Etwas fehlt mir, und dann, oder vielmehr gleichzeitig, die schmerzliche Erkenntnis, was ihm fehlte. Auch jetzt hatte er wieder dieses Gefühl, als er mit der Lambretta durch das Tor des Blackheath-Friedhofs fuhr und dabei eine surreale Figur abgab mit seinem Helm und schwarzen Anzug — dem einzigen, den er besaß und der noch aus der verzweifelten Phase gegen Ende der Pathology-Karriere stammte, als sie es mit einem Imagewechsel versucht hatten. Wenn jemand stirbt, spricht man oft als »verloren« von ihm — vor fünf Jahren habe ich meinen Mann verloren. Vic war früher nie klar gewesen, daß das nicht einfach schönsprecherische Worte waren, sondern daß man tatsächlich einen Menschen verlieren konnte, im wörtlichen, irritierenden Sinn: daß man nicht weiß, wo er abgeblieben ist.
    Tess war davon ausgegangen, sie würden zusammen zu Emmas Beerdigung gehen, aber Vic war so lange einer Verabredung dafür ausgewichen, daß sie zum Schluß sagte, sie würde ihn dort treffen. Daß er sich nicht auf Uhrzeiten und dergleichen festlegen ließ, war nicht ungewöhnlich für ihn, aber diesmal gab es einen Grund: Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt hingehen sollte. Er hatte Angst, er würde es nicht durchstehen. Was wäre, wenn er zum Beispiel zu weinen anfing, heftig zu weinen, heftiger, als man es vom Freund des frischen Witwers erwartete? Und das konnte ihm leicht passieren. Vic hatte noch nie so viel geweint wie in dieser letzten Woche. Aber wenn er, als Joes bester Freund und wichtigster Tröster in dieser Zeit, nicht erschiene, sähe das noch eigenartiger aus: Fragen würden gestellt. Wie er sich auch entschied, alles war verräterisch.
    Buchstäblich in letzter Minute machte er sich dann doch auf den Weg. Den ganzen Vormittag hatte er Gründe für sein Fortbleiben hin und her gewälzt, aber der Gedanke an Joes Verletztheit und die bestimmt kommenden Fragen, sowohl von ihm als auch von Tess, waren ihm einfach zuviel. Und natürlich wollte er gehen. Vic hatte viel in dieser Woche gelernt, besonders über den Tod. Er wußte jetzt, daß trotz all des Zeitungsgeredes beim Tod von jemand Berühmtem über »den Respekt vor der stillen Trauer der nächsten Angehörigen« Trauer nichts Stilles ist. Sie muß eine Stimme finden; der einzige Weg, den Kummer zu mildern, ist, ihn auszudrücken, besonders bei Leuten, für die Mitteilungsbedürfnis ein Primärtrieb ist. Aber Vics Kummer war Kummer, der nicht ausgedrückt werden konnte; es war unrechtmäßiger Kummer. Und die kleine Portion rechtmäßiger Trauer, die ihm als Joes Freund und Bekanntem Emmas zugestanden wurde, machte alles noch schlimmer. Trotzdem, wenn er zu ihrer Beerdigung ging, konnte er seinen Kummer ausdrücken, egal wie verhindert.
    Der Friedhofspfad bog vom Tor aus nach rechts zu der kleinen, von Büschen umgebenen Kapelle ab. Vic war spät dran — der Rest der Trauergemeinde war bereits hineingegangen, weshalb er jetzt mit Vollgas in Richtung Kapelle raste; als sein Knie in der Kurve fast den Boden berührte, wußte er selbst, wie unpassend an diesem Ort solche Motorradrennbahnpossen waren. Während er an den Gräbern vorbeisauste, die in seiner Zeitraffervision eins am anderen klebten, dachte er daran, wie viele in dieser endlosen Reihe von Toten über die Jahrhunderte hinweg zu Lebzeiten fest und unbeirrt an ein Leben nach dem Tode geglaubt hatten und nun in ihren Särgen lagen, sich wunderten, was los war, und die Welt nicht mehr verstanden, jedenfalls die hier unten nicht. In diesem Moment hätte Vic auch gern an ein Leben nach dem Tod geglaubt, konnte aber nicht, seine eigenen Argumente kamen ihm die Quere. Wie kann es einen Himmel geben, hatte er oft gesagt, wenn die Leute, die das Wort dauernd im Munde führen, doch diese Welt meinen — unsere Welt mit ihren himmlisch weichen Matratzen und himmlischen Antibiotika, ihrer himmlischen Technologie und schuldfreien Sexualität, ihren himmlischen Badezimmern und Zentralheizungen — das ist der Himmel. Obwohl ihm die Worte heute hohl klangen, weil die Welt alles Himmlische verloren hatte, ergaben sie für ihn immer noch Sinn: einen sehr traurigen.
    Als er vor der Kapelle vorfuhr, machte sein Roller noch mehr Krach als sonst, aber das kam ihm bestimmt nur wegen der Stille ringsherum so vor, sagte sich Vic. Doch bei

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