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Was man so Liebe nennt

Was man so Liebe nennt

Titel: Was man so Liebe nennt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Baddiel
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mich zu schütteln. Ich rufe die Polizei!«
    Joe sah wieder in Sylvias Augen, entdeckte aber nur Entsetzen und eine endlose öde Leere darin: Der Moment war verpaßt. Ihm war klar, daß alles Fragen jetzt zwecklos war; aber gleichzeitig dämmerte ihm, daß Emma kurz vor ihrem Tod mit ihrer Mutter Kontakt aufgenommmen haben mußte. Ausgeschlossen, daß Carole Kings Version von You Make Me Feel Like a Natural Women zu Sylvias Standardrepertoire gehörte; das Lied mußte ihr von Emma vorgesungen worden sein, und zwar ganz kürzlich, denn Sylvia merkte sich neue Lieder nie lang.
    Joe konnte das nicht einordnen. Wie er zu Vic und Tess gesagt hatte, wußte er im Grunde nie, was Emma mit ihren Dienstagen anfing, nur, daß Besuche bei ihrer Mutter nicht auf dem Programm standen — dafür hatte sie die Freitagabende reserviert. Außerdem hatte sie ihm immer erzählt, wann sie zu Sylvia fuhr, für den Fall, daß er sie dringend erreichen mußte.
    Ein schrecklicher Gedanke, ein Gedanke der schon in seinem Unterbewußtsein bohrte, seit die Polizei ihm erzählt hatte, daß Emma keinen Sicherheitsgurt trug, kam jetzt wie ein sich windender Wurm an die Oberfläche. War es möglich, daß Emmas Tod kein Unfall war? War es möglich, daß sie ihre Mutter besucht hatte, um ein letztes Mal mit ihr zu sprechen, weil sie vorhatte, sich umzubringen?
    Joe wirbelten die Gedanken durch den Kopf. Ja, dann wäre sie hergekommen und hätte noch einmal mit Sylvia sprechen wollen. Und da sie sich wie immer nicht anders mit ihr verständigen konnte, hatte sie ihr vorgesungen. Aber warum dieses Lied? Warum das Lied, das sie hörten, als er Emma fragte, ob sie ihn heiraten wolle?
    Bei dem Gedanken, der ihm jetzt kam, machte Joes Herz einen Freudensprung. Er würde nie wissen, ob es stimmte oder nicht, aber er wünschte sich verzweifelt, es wäre so. Vielleicht hatte sie das Lied nicht für Sylvia gesungen, sondern für ihn. Schließlich hatte sie gewußt, daß er gleich nach ihrem Tod zu Sylvia gehen würde, und hatte sich gedacht, daß Sylvia es ihm Vorsingen würde. Ja, Emma sandte ihm eine Botschaft... doch bestimmt! Sie sagte ihm, daß sie ihn noch liebte — oder nicht?
    Er wollte diesen Gedanken festhalten, ihn sich ganz fest ins Gedächtnis graben, aber da zerschlug ein schrilles Horn seine Konzentration und riß seinen Tagtraum in Fetzen. Als er sich umblickte, stand Sylvia mit gekreuzten Armen an der Tür, direkt neben dem Alarmknopf. Sie sah genau wie Emma aus, wenn sie zornig war.
    »O Sylvia...«, sagte er mit einem tiefen Seufzer.
    »Kommen Sie keinen Schritt näher. Die Polizei ist jede Minute hier.«
    Joe, der immer noch auf dem Boden kauerte, guckte auf den braunen Teppichfleck zwischen seinen Füßen. Vielleicht war ja alles nur der reinste Quatsch. Vielleicht hatte Sylvia das Lied doch schon vorher gekannt. Als Joe hörte, wie die Tür geöffnet wurde, blickte er auf: Der Pfleger, ein stämmiger Mann aus Yorkshire, der ein schwarzes Jackett und Schlips trug, wohl weil ihm, zumindest hatten Joe und Emma oft ihre Scherze darüber gemacht, ein Job mit Uniformzwang lieber gewesen wäre, schlenderte alles andere als alarmiert durch die offene Tür.
    »Verhaften Sie diesen Mann!« rief Sylvia und zeigte mit ihrem dramatisch ausgestreckten Finger auf Joe.
    Der Pfleger sah sie gelassen an und dann zu Joe hin. Er drückte einen Knopf auf einer Art Fernbedienung an seinem Gürtel, und das Horn hörte zu tuten auf, verebbte wie das Wimmern eines sterbenden Tiers oder der letzte Ton einer Luftschutzsirene.
    »Tag, Mr. Serena«, sagte er.
    »Tag«, sagte Joe, der den Namen des Pflegers mehr als einmal gehört hatte und sich wirklich wünschte, diesmal könnte er sich erinnern.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ja. Nun, Sylvia ist ein bißchen durcheinander...«
    »Worauf warten Sie noch?« herrschte Sylvia den Pfleger an.
    Der Pfleger beugte sich zu ihr hinunter und faßte sie sanft am Arm; aus Joes Perspektive sah der Wirbel am Ende seines schnurgerade durch das plattgedrückte schwarze Haar laufenden Seitenscheitels aus wie ein Tintentropfen an der Spitze einer Schreibfeder. Der Pfleger führte Sylvia in die Mitte des Raums und blinzelte Joe im Vorübergehen zu. »Sylvia, warum setzen Sie sich nicht ein Weilchen hier aufs Sofa, während wir die Sache klären?«
    »Ich wollte sowieso gerade gehen«, sagte Joe und stand auf. Er mochte die Wir-und-die-da-Haltung des Pflegers nicht.
    »In Ordnung, Sir«, erwiderte er und holte ein Pillenfläschchen aus

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