Was man so Liebe nennt
Hill-Grundschule abgehalten, in der Joe und Emma Jackson am Tag seiner Geburt vorangemeldet hatten.
In der Halle mit dem Partkettfußboden, noch den Friedhofsstaub in den Aufschlägen ihrer Anzughosen, steuerten Emmas Brüder und Cousins schnurstracks die im hinteren Teil provisorisch errichtete Bar an, ohne die Diaschau eines Blicks zu würdigen, die bereits vorn auf der über die Bühne gespannten Leinwand lief. Fotos von Emma in lockerer Folge; dazu lief ein Band mit gälischer Harfenmusik: Kind Emma, das Haar in Rattenschwänzen zusammengebunden und weniger blond, als Vic erwartet hätte; Studentin Emma, ganz im Achtziger-Look und mit dickem Lidstrich, Braut Emma, lächelnd neben dem schüchternen, aber strahlenden Joe — es war ein wissendes Lächeln, fand Vic, so wie man es manchmal bei Frauen sieht, die ihre Zukunft genau abgesteckt haben — , Mutter Emma, die lachende Emma, die arbeitende Emma. Während Vic sich das alles ansah, spürte er plötzlich, wie wenig er von Emma wußte, wie wenig zumindest von den Aufs und Abs ihres Lebens, den Fakten und Daten, der Landkarte ihres Alltags; und doch wie entscheidend, wie einzigartig für ihn war der Teil von ihr, den er kannte. Wie zur Bestätigung seiner Gedanken kam jetzt das letzte Foto der Serie — Emma im Gespräch mit Freunden auf Sonias und Michelles Party —, und Vic empfand den Kitzel, den Thrill geradezu, seiner eigenen Lesart dieses Bilds, die sich von der aller anderen im Saal unterschied, denn es war das einzige Foto in der Folge, das nach Beginn ihrer Affäre aufgenommen worden war.
Es war Sonia, die als erste hoch zu dem Rednerpult vor der Leinwand ging. Die Fotoserie lief noch einmal von vorn ab, die gälische Harfe verebbte, und hinter Sonias streng zurückgekämmtem Haar waren die Rattenschwänze von Kind Emma zu sehen. Die verbliebenen Mitglieder der angelsächsischen Fraktion der Trauergemeinde nahmen auf den vor der Bühne aufgestellten Stuhlreihen Platz.
»Meine Damen und Herren...«, begann Sonia und errötete dann leicht, vielleicht weil sie spürte, daß diese Anrede ein bißchen showbiz war. »Freunde... wir haben uns hier zur Gedenkfeier für Emma Serena versammelt, die am vergangenen Dienstag auf so tragische Weise ums Leben kam.«
Das Stimmengewirr an der Bar im Hintergrund hob wieder an, nachdem es für eine Sekunde verstummt war.
»Und eine Feier soll es sein. Denn jeder, der Emma kannte, weiß, wie sehr sie das Leben liebte und sicher gewollt hätte, daß der heutige Tag gleichermaßen dem Feiern wie dem Gedenken gewidmet ist.«
Und so ging es weiter, Redner um Redner, Prosa wurde vorgelesen und Gedichte aufgesagt. Vic saß die ganze Zeit neben Tess, deren Gesicht so wenig Regung verriet, als trüge sie weiterhin ihren Schleier. Um sich herum nahm Vic feuchte Augen und Gänsehaut wahr, hin und wieder sogar ein in Tränen gebadetes Lächeln, die selige Traurigkeit eines in Melancholie schwelgenden Publikums. Er versank in einen Dämmerzustand und ließ die Gedenkworte über sich hinwegspülen: Zeit, Liebe, Seele, Leben, Freunde, Familie, Vogel, Feuer, Nacht, See, Jenseits. Zwischendrin erwachte er mehrmals aus seinem Dämmer, und dann spürte er jedesmal, wie ein vertrauter Groll ihn überkam, ähnlich wie in den Tagen, als Pathology nie zum Zuge kam. Es erinnerte ihn an die einzige Preisverleihung, zu der man sie je eingeladen hatte. Für drei Kategorien waren sie nominiert und gewannen in keiner. Vic sah es noch vor sich, wie er an einem der runden Tische saß und zusah, wie die anderen Bands auf die Bühne gingen, um sich zu bedanken und ihre Trophäen in Empfang zu nehmen; und trotz seiner ganzen irgendwie Leck-mich-Einstellung zu seiner Rockmusikerexistenz hatte er gedacht: Ich sollte dort oben stehen. Und als jetzt einer nach dem anderen ans Rednerpult trat und sich als Emma-Kenner ausgab, hatte er das gleiche Gefühl von Ausgeschlossensein, von Groll auf die Ignoranz der anderen. Während er den Resümees zuhörte, mündlichen Versionen der Lichtbilder von ihr, staunte er bloß über das Informationsdefizit dieser Leute: über all das, was nicht zur Sprache kam, weil nur er es hätte sagen können. Nur er allein war im Besitz dieses Wissens. Und der Gedanke daran war, zeitweise, das einzige, womit er sich von Zwischenrufen abhalten konnte.
Als letzter sprach Joe. Er hatte die ganze Zeit auf einer Seite der Bühne gesessen, neben Sylvia, deren Hand er hielt, vielleicht zum Trost, aber wahrscheinlicher, um sie zu
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