Was man so Liebe nennt
Gedanke war auch ihm gekommen, und zwar aus triftigerem Grund als Joe.
»Warum sagst du das?«
Joe seufzte. »Es ist ziemlich kompliziert. Vielleicht liege ich ja falsch. Aber als ich zu Sylvia ging, um ihr die Nachricht zu überbringen, ist etwas sehr Sonderbares passiert, das mich auf den Gedanken brachte, daß Emma unmittelbar vor dem Unfall mit ihrer Mutter Kontakt aufgenommen haben muß, weil sie wußte , daß sie sterben würde.«
»Was Sonderbares?«
»Das spielt keine Rolle. Ich werde es dir ein andermal erklären. Ich möchte bloß wissen, ob du es für möglich hältst, daß Emma so was macht.«
Vic stieß seinen Rücken von der grauen Doppeltür ab. Er wußte, daß Joe keinen Verdacht gegen ihn hatte; trotzdem merkte er, wie eine Art Selbstzensur in seinem Kopf einrastete, so wie bei einem Schuldigen, der in der Nähe des Tatorts ertappt und zuerst als potentieller Zeuge befragt wird. Paß genau auf, was du sagst, dachte er.
»Wer Selbstmord begehen will, rast doch nicht mit dem Auto gegen eine Parkmauer, oder?«
Joe schwieg einen Moment.
»Nicht jeder begeht Selbstmord wie Sylvia Plath«, sagte er dann. Vic runzelte verständnislos die Stirn. »Ein Selbstmord muß nicht unbedingt vorher geplant und genau überlegt sein. Wie du selbst mal gesagt hast: Manchmal steht man oben auf einer Klippe — und plötzlich überkommt einen der Drang, sich hinunterzustürzen. Oder, mit anderen Worten: Du sitzt im Auto und denkst plötzlich: Warum reiß ich nicht einfach das Steuer scharf rum und geh Gas...«
Joe machte die Bewegung nach. Vic empfand es als schrille Diskrepanz: Joe, der weinende Witwer, und Joe, der Detektiv, und irgendwo zwischendrin kam auch noch der Wissenschaftler zum Vorschein, der aus Hypothesen seine Schlüsse zog. In seinen Überlegungen war ein Denkfehler.
»Aber wenn sie der Drang ganz plötzlich überwältigte... wie kann sie dann gewußt haben, daß sie stirbt, und deshalb noch einmal mit ihrer Mum sprechen wollen?«
Joes Hände, die sich immer noch um das imaginäre Lenkrad krampften, fielen jetzt schlaff herab. »Ich weiß es nicht. Vielleicht hatte sie sich entschlossen, wußte aber noch nicht, wie sie es tun würde. Als sie mit ihrer Mum sprach, hatte sie vielleicht einen anderen...«, er atmete so heftig aus, daß es wie ein hohles Lachen klang, »...sichereren Weg im Sinn, und als sie dann ins Auto stieg, dachte sie einfach zum Teufel.« Er hielt inne; das ganze Hypothesenaufstellen-Adrenalin war verflogen, und seine Stimme war nur noch von unendlicher Traurigkeit durchtränkt, als er sagte: »Ich weiß es einfach nicht.«
Vic verschränkte die Arme und machte ein nachdenkliches Gesicht; besser, ich rette mich in ein paar Allgemeinfloskeln, sagte er sich. »Das kann ich nicht glauben. Aber ich kannte sie wirklich nicht gut genug, um das zu beurteilen.«
Joe verzog das Gesicht, und Vic glaubte, er würde wieder in Tränen ausbrechen, aber statt dessen wandte er den Kopf ab und nieste.
»Bist du erkältet?« fragte Vic.
»Nein«, antwortete Joe und kramte in seiner Tasche nach einem Taschentuch. »Es ist bloß so staubig hier drin.« Seine rechte Hand beförderte schließlich ein zerknülltes Papiertuch aus seiner Hosentasche, an deren nach außen gestülptem Futter weiße Krümel klebten, weil er die Hosen gewaschen hatte, ohne vorher in die Taschen zu gucken. Emma hätte nachgesehen.
»Eigentlich müßtest du doch das Problem haben...«
Vic sah ihn verständnislos an.
»Wegen deiner Allergie«, sagte Joe und betupfte sich die Nase.
»Oh. Jaah. Aber diesen Sommer scheine ich verschont zu bleiben.«
»Wir haben doch erst April.«
»Stimmt. Trotzdem hast du recht, normalerweise habe ich meinen Heuschnupfen um diese Zeit, aber dieses Jahr meldet er sich aus irgendeinem Grunde nicht. Nicht mal auf dem Friedhof habe ich was gemerkt.«
Joe nickte abwesend und kratzte mit dem Fingernagel seines Zeigefingers über die Schultischplatte, vor und zurück.
»Ich hab dir nie erzählt, daß es mit unserer Ehe bergab ging, nicht wahr? Zu niemandem habe ich was davon gesagt.« Er verzog die Lippen zu einem gepreßten Lächeln. »Und jetzt habe ich es allen erzählt.«
»Mach dir deswegen keine Sorgen...«
»Es ist nur so, in den letzten Wochen waren es nicht bloß die üblichen Spannungen zwischen uns. Emma benahm sich plötzlich wirklich sonderbar. Irgendwie war sie überhaupt nicht mehr sie selbst. Sie schimpfte mit Jackson, und Toni sagte mir, daß sie sich einmal zwei
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