Was man so Liebe nennt
Zeit hat. Nicht wahr? So viel Zeit.«
»O Gott...«, sagte Tess gepreßt.
»Und ich gebe euch den Rat«, sagte Joe, und Tränen traten in seine Augenwinkel, »jaah... wirklich, den banalen Weihnachtskalenderratschlag gebe ich euch: Seid nett zu denen, die ihr liebt. Wenn es Schwierigkeiten zwischen euch gibt, sucht einen Ausweg. Klärt euer Problem. Und wartet nicht damit. Weil...«, auch jetzt, als sich sein Gesicht zum Weinen verzog, verschwand der Eifer nicht daraus, »... sie sterben können. Sie können verdammt noch mal sterben. Jeden Tag. Und dann ist alles zu spät. Selbst das, was einem der Tod angeblich bescheren soll — die Erinnerungen, jaahh...«, er lachte halb, so wie man lacht, wenn man eigentlich weinen will, »die gepriesenen Erinnerungen an die guten Zeiten... sie sind dahin...« Er fuhr mit der Hand durch die Luft. » Weggewischt sind sie, weil man nur daran denken kann, wie schlecht alles geendet hat.« Ihm versagte die Stimme. Er senkte den Kopf ganz tief, so als sähe er seinen eigenen Tränen nach, wie sie auf die zerkratzen Dielen fielen. »Ich... es tut mir leid... ich...«
»Joe«, sagte Vic leise. Er war auf die Bühne gegangen und legte ihm die Hand auf den Arm. Joe hob sein tränenüberströmtes Gesicht, und einen Moment blickten sie einander an, Vic sah Joe ganz klar, Joe ihn nur verschwommen, und dann sackte Joes Kopf, so als wäre sein Genick gebrochen, auf die Schulter seines Freunds. Vic führte ihn von der Bühne. Dielenknarren und Schluchzen waren jetzt die einzigen Geräusche, die noch in der Halle zu hören waren, nachdem Joes Rede sogar Emmas Familie vom Trinken, Schwatzen und ihrem drohenden Gesang abgehalten hatte.
In einem mit Schulmüll vollgestopften Abstellraum hinter der Halle — einer letzten Ruhestätte für Bücher und Tafelschwämme — wartete Vic, daß Joe zu sprechen begann. Zehn Minuten saß Joe nun schon auf dem Stuhl mit H-Rückenlehne vor einem alten, ausgedienten Holzschultisch mit schräger Platte, eingelassenem Tintenfaß und allem und sah wie ein Sextaner aus, der so lange über eine Frage nachgedacht hat, daß er dabei alt geworden ist. Vic, der mit dem Rücken an der großen Doppeltür lehnte, sah sich zum hundertsten Male um und fragte sich, ob hier all das Zeug hinwanderte und sein Gnadenbrot fraß, das mit dem Einzug von Computern an die Schulen überflüssig wurde. Es war heiß hier drin und stickig; er spürte, wie der Engel an seinem linken Oberarm juckte.
»Vic...?« sagte Joe schließlich, ohne ihn anzusehen. Soweit Vic erkennen konnte, stierte er weiter auf die Schachtel bunter Kreide, die vor ihm auf dem Boden lag.
»Jaah?« Vic tat gelassen, so, als sei es nicht weiter von Bedeutung, was hier vor sich ging, als sei es keine Extremsituation.
»Kann ich dich etwas fragen?«
Schließlich löste Joe seinen Blick von dem Pastellfarbenspektrum und sah hoch. Vic nickte, hoffte aber inständig, daß es nicht die Frage war, die ihm sofort durch den Kopf schoß.
»Was glaubst du, wie gut du Emma gekannt hast?«
War das der erste Schritt zu einem Verhör? Ich muß vorsichtig sein, sagte sich Vic, und nicht etwas beantworten, was vielleicht gar nicht in seiner Frage steckt.
»Ähhm... also, ich weiß nicht recht. Mir kam sie immer ein bißchen rätselhaft vor. Verglichen mit deinen anderen Freundinnen. Du weißt schon, Deborah zum Beispiel, bei der gingen immer alle Rechnungen glatt auf.« Joe lächelte in sich hinein. Vic atmete innerlich auf und fühlte wieder sicheren Boden unter sich bei diesem Kumpelgerede über Frauen, selbst wenn eine von ihnen tot war.
»Ich meine«, fuhr Vic fort, »bei Deborah hatte man nie den Eindruck, daß es unter ihrer Oberfläche noch mehr zu entdecken gab. Bei Emma dagegen schon. Bei ihr hatte man immer das Gefühl, daß mehr an ihr war, als es auf den ersten Blick schien.«
Er hielt inne, er wollte nicht zu weit gehen. Jetzt war wirklich nicht der Zeitpunkt, sich über das auszubreiten, was ihm während der öffentlichen Elogen verweigert worden war.
»Warum fragst du?« sagte er, eher zu seiner eigenen Entlastung.
Joe hustete und fuhr sich mit der geballten Faust an den Mund, ein bißchen wie auf der Bühne.
»Würdest du sagen, sie war jemand, der Selbstmord begehen könnte?« fragte er.
Vic hob überrascht beide Brauen, merkte aber im nächsten Moment, wie gekünstelt das Staunen in seinem Gesicht war, so als hätte er es von einem weiß geschminkten Clown mit Zuckertütenhut abgeguckt. Genau der
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