Was mich fertig macht, ist nicht das Leben, sondern die Tage dazwischen (German Edition)
einen Schluck und wirft dann einen Blick auf Zottel, der im Schatten liegt und mit keiner Bewegung andeutet, je wieder aufstehen zu wollen.
Schließlich setzt sie sich neben ihn auf die Decke und starrt über das Wasser. Rank wie ein Ladestock sitzt sie da. Ihre Haltung sieht nach Ballett aus, aber ihre Füße sind dafür zu gut erhalten. Aber – wo habe ich diese Art Hornhaut schon mal gesehen ...?
Auf der Schulter hat sie ein Tattoo. Ein Herz mit einem Messer in der Mitte. Da gibt es dann auch wieder mehrere Möglichkeiten: geteilt, zerbrochen oder aufgeschlitzt. Wie auch immer, in jedem Fall ist es genau so in wie der Stecker in ihrer Nase, die blaue Sonnenbrille und die Baseballkappe. Echt cool. Hey! Vielleicht ist sie ja Miss viva .
Sie rutscht ein Stück nach vorne und legt sich dann wortlos neben mich auf die Decke, nimmt die Kappe ab und offenbart eine Glatze. Scheiße, das ist nicht Miss viva , das ist Tankgirl ! Ich bin kurz davor, einen Kommentar abzuliefern, aber Glatze kriegt man auch von Chemotherapie, also spare ich mir den Spruch. Sie könnte mich eh nicht verstehen.
Im selben Augenblick dreht sie den Kopf zu mir herum.
»Do you speak English?«, fragt sie mich mit starkem Akzent.
»Nee«, lüge ich und schüttele den Kopf.
Sie begnügt sich damit und dreht das Gesicht wieder zum Wasser. Ich atme erleichtert auf. Jetzt steht einem schönen Tag nichts mehr im Wege.
Abends verabschieden wir uns genauso voneinander, wie wir den Tag verbracht haben: wortlos. Sie hat den Strandtauglichkeitstest mit summa cum laude bestanden und setzt dem Ganzen die Krone auf, als sie mir zum Abschied nur leise zulächelt, um die Stille nicht zu gefährden. Vorne fehlen ihr zwei Zähne. Sieht süß aus.
Ich beobachte, wie sie in den Klippen verschwindet, und versenke mich dann in den Sonnenuntergang. Das Meer vor mir, die Beerdigung hinter mir, ein stiller Tag mit einer Fremden und die erste Energieattacke seit Wochen. Nein, es ist nicht alles Gold, was glänzt, aber dass ich mich schon wieder wie ein Irrer aufführen kann, macht mir Hoffnung.
Plötzlich versinkt die Sonne. Der Wind frischt auf. Das Meer wird mystisch, und mich befällt ein Gefühl von Einsamkeit. Ich packe schnell meinen Kram zusammen und mache mich auf dem Weg zur Familie.
Nach dem Abendessen ist Far wieder in seinem Element und wärmt alte Kamellen auf. Gerade lacht er sich über die Scheißhaufengeschichte schlapp, und die geht so:
Als ich so etwa fünf war, hatten wir wenig Kohle und wohnten auf Vesterbro, einem heruntergekommenen Stadtteil von Kopenhagen. Fünfter Stock, dunkles Treppenhaus, Plumpsklo im Hof. Da die Treppe lebensgefährlich war, gab es für den Fall, dass wir »klein« mussten, Flaschen, für den anderen Fall Eimer.
Obwohl wir nicht viel zu essen hatten, kam es manchmal vor, dass die Eimer voll waren, dann schissen wir in Brottüten, die Far in die Tageszeitung wickelte und am nächsten Tag auf dem Weg zur Arbeit mit eleganten Unterhandwürfen in die Mülltonnen fremder Leute entsorgte.
Eines Tages, wir packten gerade Weihnachtsgeschenke ein, kam Susann mit einer solchen Bombe rein. Far wickelte sie spaßeshalber in Geschenkpapier und legte sie über Nacht vor der Haustür ab. Am nächsten Morgen hatte sie jemand mitgehen lassen ... Was unter anderem die These bestätigt, dass man jede Scheiße loswird, wenn sie nur richtig verpackt ist.
Am nächsten Morgen nahm Far ein ›Geschenk‹ mit zur Arbeit und ›vergaß‹ es auf dem Gepäckträger. Als er in der Mittagspause nachschauen ging, war es weg, aber ein paar Meter weiter lag noch das Papier und eine Hand voll Scheiße. Das rettete ihm den Tag. Von da ab schissen wir häufiger in Geschenkpapier.
18. Die sechste Frage
D en nächsten Tag verbringen Tankgirl und ich ebenso still am Wasser, und so langsam gewöhnt sich sogar mein dummer Schwanz daran, dass wir nackt herumliegen und er trotzdem nicht in ständiger Einsatzbereitschaft zu stehen braucht. Dennoch, ausgehungert am Meer zu liegen, mit einem nackten weiblichen Wesen in nächster Nähe, scheint eindeutig zu viel für ihn zu sein. Als ich mich deswegen zum zehnten Mal auf den Bauch drehen muss, wird es mir zu blöd. Sie ist über achtzehn und überall gleichmäßig braun, der Anblick kann ihr nicht völlig fremd sein.
Ich drehe mich diesmal also nicht auf den Bauch und beobachte aus der Rückenlage, wie mal wieder Bewegung in die Sache kommt. Als sie sieht, was ich sehe, zeigt sie auf ihn und sagt:
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