Was mich fertig macht, ist nicht das Leben, sondern die Tage dazwischen (German Edition)
...
Carlos war ein begnadeter Pianist. Er war jahrelang mit Boney M. unterwegs, als sich plötzlich herausstellte, dass er einen Gehirntumor hatte. Der Druck, den dieser Tumor auf sein Gehirn ausübte, löste epileptische Anfälle aus, und diese Anfälle machten Carlos zum Pflegefall. Ich bekam den Job, ihn dreimal die Woche zur Behandlung zu fahren, und obwohl er manchmal ausflippen konnte, kamen wir gut miteinander klar. Zwischen Autobahn und Wartezimmern entwickelte sich langsam eine Freundschaft. Wir führten lange Gespräche, und wenn wir das Thema Musik erwischten, leuchtete sein Gesicht auf, und er engagierte sich so, dass er wenig später ein paar von diesen Mörder-Downern einwerfen musste, die er bei sich trug. Carlos erklärte mir, dass sein Tumor wie ein Alien mit Greifarmen ausgestattet sei und dass es schwer sei, diese operativ zu entfernen, ohne das Gehirn zu beschädigen. Wenn aber nicht alles entfernt werden würde, sei es nur eine Frage der Zeit, bis der Tumor wieder zu wachsen beginne, daher hatte er sich für eine langsamere, aber natürlichere Methode entschieden. Er glaubte, dass die Natur ihren Müll selber beseitigt – niemand lässt einen unerwünschten Gast lange an seinem Tisch mitessen –, und wollte die Schulmedizin nur dazu nutzen, diesen Prozess zu beschleunigen.
Monat für Monat rannte er von Arzt zu Arzt und machte einen Haufen Schulden. Seine Beziehung ging in die Brüche, seine Freundschaften überwiegend auch. Für seine Genesung war äußerste Ruhe Pflicht, und so lag er meistens in seinem Bett und glotzte TV. Ich denke, er wollte sich mit Langeweile betäuben, den ganzen Scheiß in einem langen Monotonietrip hinter sich bringen, und tatsächlich begann sein Organismus, den Tumor langsam einzukapseln. Ein Jahr nach der Diagnose war der Tumor drei viertel eingekapselt, und Carlos beschloss, das letzte Viertel bei seinen Eltern in Chile abzuwarten. Haus am Meer, Sonne, Strand, Ruhe. Es sollte höchstens noch ein Jahr dauern. Ein halbes Jahr später kam die Nachricht, dass er an einer Überdosis Cortison gestorben war. Nachdem er den Kampf gegen Tumor eins gewonnen hatte, diagnostizierten die Ärzte bei ihm einen zweiten.
Manchmal frage ich mich, wer das Wort Gerechtigkeit erfunden hat. Das ist eine schöne Vision, aber letztlich nur ein Wort. Wie Moral. Beides ist un-natürlich und damit ein Lernprozess, der nur funktioniert, wenn die Menschheit sich weiterentwickelt. Um daran glauben zu können, hätte ich nie ein Geschichtsbuch aufschlagen dürfen. Aber ich bin dankbar, dass wenigstens eines klar ist: Vor dem Naturgesetz sind alle gleich. Berechtigt. Wir werden geboren und leben, bis wir sterben. Ob schwarz oder weiß, Frau oder Mann, arm oder reich, Kinder, Behinderte, Militärs – alle sterben. Keine Sonderregelungen möglich. Einigen wünschte ich nur vorher etwas Leben.
Schritte im Gras. Susann setzt sich neben mich und kramt ihre Zigaretten heraus.
»Willst du?«
Ich schüttele den Kopf. Sie raucht. Ein Augenblick, eine Ewigkeit vergeht. Wir starren über das Wasser. Segelboote verschwinden weißblau am Horizont. Die Sonne sinkt. Susann zündet die nächste an. Ich spüre, dass sie weint, und atme flach, um nichts zu verpassen. Die Sonne geht unter und badet alles in Gold.
»Wunderschön«, flüstert sie.
Ich nicke. Kann nichts sagen. Auch in diesem Augenblick kann sie sich über einen Sonnenuntergang freuen. Ich liebe sie.
Sie schnippt die Zigarette über die Klippe.
»Sie hat uns so oft allein gelassen«, sagt sie und reißt eine neue Schachtel auf. »Ich werde nie wieder jemand lieben, auf den ich mich nicht verlassen kann.«
Ich nicke und denke an die Tänzerin. Dann an Britta.
»Weinst du nicht?«, fragt sie in die Dämmerung.
»Manchmal.«
»Du musst es rauslassen.«
Ich nicke.
»Aber ich fühle nichts.«
Sie nimmt meine Hand und steht auf.
»Komm.«
Ich schaue ihr in die nassen Augen.
»Wohin?«
»Wir besaufen uns.«
Hand in Hand gehen wir über den stockfinsteren Friedhof. Man könnte hier gut auf einen Horrortrip kommen, aber gruselig ist, was da draußen vor sich geht.
17. Warm-up für ein Comeback
A m nächsten Tag bin ich wieder am Strand und tigere rastlos hin und her. Ich habe nicht geschlafen, dennoch fühle ich mich wie neugeboren. Ja, es geht mir gut. Irgendetwas ist passiert. Vielleicht der Rausch. Susann meinte ja, dass ich es rauslassen sollte, aber irgendwann war ich so besoffen, dass ich nur noch heulen konnte. Machte sie auch
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