Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
Gesetzesparagraphen auf und ich meinerseits Beziehungen in die höheren Etagen und das Menschenrecht. Schaulustige Reisende versammelten sich um uns und gaben ihre Kommentare ab. Ich war fest entschlossen, keinen Millimeter nachzugeben: Entweder würde ich mit Narcisse durch das große Tor schreiten, oder wir würden beide in Handschellen abgeführt. Der Aufruhr kam schließlich auch dem Polizeikommissar von Calais zu Ohren, der uns in sein Büro bestellte und, nachdem er uns angehört und die Briefe des Bürgermeisters von Saint-Gilles gelesen hatte, Narcisse einen brauchbaren Ausweis ausstellte.
In Paris stiegen wir für drei Tage im Grand Hôtel ab. Ich regelte einige persönliche Angelegenheiten, die nach einer mehr als dreijährigenAbwesenheit aus der Heimat dringlich geworden waren, und organisierte die Weiterreise nach Saint-Gilles.
Wir nahmen den Zug nach Orléans, den es bei meiner Abreise aus Frankreich noch nicht gegeben hatte, fuhren dann mit der Postkutsche bis nach Poitiers und schließlich mit dem Boot bis nach La Roche und Saint-Gilles, wo wir am vereinbarten Tag eintrafen.
Die Willkommensfeiern in Saint-Gilles verdienen keine längeren Ausführungen – und zwar nicht, weil es an Feierlichkeit und aufrichtigen Gefühlen gemangelt hätte. Doch der mit Zweigen geschmückte Triumphbogen, die Rede des Bürgermeisters, Feuerwerk, erregte Menschen, Applaus, Tränen, der Gesang einer ganzen Gemeinde lehren uns mehr über die ehrbaren Eingeborenen der Vendée – falls uns jemals die merkwürdige Idee kommen sollte, sie als Studienobjekte zu verwenden – als über Narcisse und seine Abenteuer. Ich nahm an jenem Nachmittag und Abend des Wiedersehens teil, hielt mich aber im Hintergrund. Der Bürgermeister, eine kluge und umsichtige Standesperson, hatte mich beim Pfarrer unterbringen lassen, was sehr praktisch war. Unter dem Dach der Pelletiers ist es in der Tat sehr beengt, denn dort leben neben den Eltern auch der älteste Sohn mit Frau und drei Kindern.
Beim Anblick des wohlgekleideten Unbekannten – ich war in diesem Punkt nicht umsichtig genug gewesen: Damit er einen guten Eindruck machte und man mir nicht nachsagen konnte, ich würde mich nicht um meinen Zögling kümmern, hatte ich ihn mit Stadtkleidung versehen, samt guten Lederstiefeln, während alle anderen Pantinen tragen, und das, obwohl der Vater Schuster ist –, bei diesem Anblick waren sie alle einen Augenblick lang erstarrt, so, als hätten sie einen jungen Mann von achtzehn Jahren erwartet. Dann drückte seine Mutter ihn an ihr Herz, und während reichlich Tränen flossen, erkannte man in ihm den Jüngsten der Familie wieder.
Mir hingegen fiel rasch und ohne Verwunderung auf, dass Narcisse weder die allgemeine Heiterkeit noch den Überschwang seiner Familie teilte. Aus Höflichkeit und um die Rolle zu spielen, die alle von ihm erwarteten, gab er sich Mühe, aber ebenso hätte er die Zärtlichkeiten von irgendeiner Matrone erwidert, wenn man sie ihm als seine Mutter vorgestellt hätte. Er hatte keine Kindheitserinnerungen mehr – die Vornamen seines Bruders und seiner Schwester waren ihm ebenso entfallen wie die Anordnung der Zimmer oder die unzähligen, in einer Familie üblichen Anekdoten –, er antwortete einsilbig und zeigte wenig Eile, sich in die weit geöffneten Arme zu begeben, und das alles sorgte bald für eine gewisse Verlegenheit.
Dem Bürgermeister fiel das auf, und er nahm es zum Anlass, mich der Familie vorzustellen und ihr nochmals meine Rolle zu erläutern. Damit stand ich im Zentrum der Neugier und musste Hunderte Fragen gleichzeitig beantworten. Ich gestand, nichts über die Ereignisse an Bord der Saint-Paul zu wissen und auch sehr wenig über sein Leben bei den Wilden. Was hätten sie eigentlich begriffen, wenn ich, um mir zu behelfen, irgendeine Szene beschrieben hätte, die sich einst in Santo oder auf den Fidschi-Inseln ereignet hatte? Was hätten sie damit angefangen?
Die Zeiten der Qual und des Exils waren vorbei, und Narcisse war wieder bei den Seinen.
Der Bürgermeister, der Pfarrer und ich zogen uns zurück und ließen die Pelletiers unter sich.
Am folgenden Tag war die Kirche anlässlich des Hochamts, das zu seinen Ehren gegeben wurde, zum Bersten voll. Außer der Reihe war ein Te Deum hinzugefügt worden, und der Pfarrer präsentierte den Gläubigen die Seite des Taufregisters, in das sein Vorgänger sechsunddreißig Jahre zuvor Narcisse aufgenommen hatte. Der Taufpate, ein Onkel, hatte mit seinen
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