Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
schien mir. Ich begleitete ihn zu seinem Elternhaus, wo man ihn erwartete, und zog mich unbemerkt zurück.
In Sydney hatte er im Gouverneursgefängnis das Glas Wein abgelehnt, das ihm ein Soldat aus Spaß hingestellt hatte. Erinnerte er sich noch daran?
Gestern Abend konnte ich in meinem kleinen Zimmer im Pfarrhaus lange nicht einschlafen. Ich sah Narcisse wieder, wie er sich in einem Graben zwei Schritte von hier übergab, wie er seine Adoptivmutter in dem Hotelsalon in London beweinte, wie er Bills Angriff in unserem Landhaus abwehrte, wie er sich in dem Garten des Gouverneurs in Sydney an die Mauer flüchtete und Richtung Meer blickte. Mir kam ein erstaunlicher Gedanke: Was, wenn ich mich von Anfang an getäuscht hatte? Was, wenn die richtige Entscheidung darin bestanden hätte, ein Boot anzumieten und Narcisse an dem Strand abzusetzen, an dem diese Geschichte begonnen hatte, egal, ob dem Gouverneur das nun gefiel oder nicht?
Das war natürlich eine absurde Vorstellung: Wer brachte es übersHerz, einen Entlaufenen wieder ins Gefängnis zu stecken – ein Gefängnis, das so pervers und grausam war, dass der Gefangene es nicht einmal als solches wahrnahm. Narcisse nach zwei oder drei Wochen in der Welt der Weißen wieder zurückzuschicken, hätte bedeutet, ihn ein zweites Mal einer Welt auszusetzen, die nicht die seine war. Hätte er die Kraft gehabt, die Schaluppe John Bell zu vergessen, den Hafen von Sydney, meine Racine-Lesungen, Essen und Kleidung der Europäer und sich wieder vollkommen, absolut und ohne Ausweg in einen Wilden zu verwandeln? Welch eine unmenschliche und barbarische Folter. Der Weg, dem Narcisse folgt, kann nur in eine einzige Richtung verlaufen, und zwar nach oben. Wir dürfen niemals vergessen, dass dieser Weg nicht einfach ist und dass Narcisse von niemandem geleitet wird. Ein zweiter Odysseus, der viele Hindernisse überwinden muss, um sein Ithaka zu erreichen. Aber was soll’s! Narcisse ist kein Kind mehr, und ich habe ihm niemals einen Sonntagsspaziergang versprochen.
Und was ist schon sein Kopfschmerz am heutigen Morgen gegen den ganzen Rest?
Am nächsten Dienstag werde ich Ihnen Narcisse Pelletier vorstellen, und Sie werden die erreichten Erfolge selbst beurteilen können.
Hochachtungsvoll …
8
Als er zum ersten Mal als Schiffsjunge zur See fahren sollte, brachte ihn sein Vater nach Nantes. Die Reise hatte zwei Tage gedauert, die er damit verbrachte, die Hände auf seiner Tasche verschränkt, aus dem Fenster des Kahns die langsam vorbeiziehende Landschaft zu betrachten. Sein Vater sprach wenig mit ihm, und wenn, dann nur, um ihm erneut einzuschärfen, dass er gehorchen und hart arbeiten solle, oder um sich die Preise und die Qualität des Leders, das er für seine Werkstatt kaufen wollte, durch den Kopf gehen zu lassen.
Seine Mutter hatte ihm einen Kuchen gebacken, der sich lange hielt, damit er abends, falls sein Heimweh zu schlimm würde, ein Stück davon abbeißen konnte, und sie hatte ihn lange umarmt, was für ihn ungewohnt gewesen war. Ihm kamen die Reiseerzählungen seines Onkels, eines Grenadiers der Napoleonischen Armee, in den Sinn; er war zu Fuß durch halb Europa gezogen, wurde dann in der Schlacht bei Preußisch Eylau verwundet und kehrte in sein Dorf zurück. Diese Erinnerung bekräftigte ihn in seiner Entscheidung. Er hatte sich stets mit seinem älteren Bruder gestritten, der Beruf des Schusters oder Bauernknechts sagten ihm nicht zu, er sah an Land keine Zukunft für sich.
Sein Vater schenkte der Cousine, die sie in Nantes bei sich aufnahm, den Kuchen: Sonst würden sich alle über ihn lustig machen,wenn der kleine Schiffsjunge abends Mamas Kuchen auspacke, um sich in seinem Kummer zu trösten. An Bord, so die Cousine, werde er eh nichts zu lachen haben, besser, er gewöhne sich gleich daran.
Offenen Mundes bestaunte er die schönen Häuser und Kirchen von Nantes wie auch die Menschenmenge und die Kleider der Damen. Mehr noch aber beeindruckte ihn der Anblick des Hafens: Schiffe, so weit das Auge reichte, Masten, so hoch wie Häuser, Karren, Tampen, Fässer, Flaschenzüge, Stoffballen, Planken, Seeleute, die alle Sprachen dieser Welt sprachen, darunter ein Schwarzer, der Erste, der ihm bislang zu Gesicht gekommen war.
Bei einem Altkleiderhändler erwarb sein Vater eine Hose und eine Seemannsjacke für ihn und stellte ihn dann dem Kapitän des Zweimasters La Fidèle vor. Der übergab ihn dem Bootsmann, der, so kurz vor dem Auslaufen, keine Zeit für den
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