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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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haben, um ihm das alles wieder beizubringen? Und dann sind die Felder viel zu klein, um auch noch einen Knecht mitzuernähren. Und weil er so gut wie keinen Besitz hat, wird auch kein Mädchen aus der Gegend, das etwas mitzubringen hätte, ihn haben wollen. Das Interesse der anderen an seiner Person würde rasch verfliegen, und auf die allgemeine Nächstenliebe sollte man sich besser nicht verlassen.
    Als die Absicht hinter den Worten mehr oder weniger erkennbar wurde, sagte ich vielleicht ein wenig zu unwillig:
    «Und jetzt? Soll er wieder zur See?»
    Alle protestierten, und ich glaube, sie meinten es ehrlich. Falls Narcisse, so gaben sie mir zu verstehen, in Saint-Gilles bleiben wolle, würde er nicht verhungern, aber ihm stünde ein armseliges Dasein bevor. Er sei im Alter von sechsunddreißig Jahren mit der Unschuld und Unkenntnis eines Kindes zurückgekehrt. Doch was solle man mit einem sechsunddreißig Jahre alten Kind anstellen, das irgendwann vierzig, fünfzig sein werde? Die Zukunft von Narcisse liege nicht mehr in Australien, nicht mehr auf See, aber in Saint-Gilles liege sie eben auch nicht.
    Sie waren zu geschickt, um sich noch weiter vorzuwagen, und ich ahnte, dass diese Zusammenkunft vorher von den drei Komparsen sorgfältig geplant worden war. Die Höflichkeit wollte es, dass ich nicht zu schnell begriff, und während der Pfarrer für uns einen Likör aus dem Schrank holte, beklagten wir einvernehmlich das elende Schicksal dieses Unglücklichen.
    Nachdem ich mein Glas geleert hatte, machte ich einen vorsichtigen Vorschlag, der nicht abgelehnt wurde. Es sei nicht ratsam, andiesem Abend zu einem Entschluss zu kommen. Sie hatten verstanden, dass ich sie verstanden hatte, und sie äußerten den Wunsch, dass ich, wenn ich mich wieder auf den Weg machte, Narcisse mitnahm.
    Jener, und auch ich selbstverständlich, sei in Saint-Gilles stets willkommen. Vater Pelletier legte Wert auf die Feststellung, dass er seinen Teil des Erbes erhalten werde.
    Es gab tatsächlich keinen Grund für überstürzte Beschlüsse. Es blieb zu beobachten, wie er sich weiterentwickelte: Seine Rückkehr in die Welt der Weißen lag erst fünf Monate zurück; seine Rückkehr nach Frankreich eine Woche, seine Rückkehr nach Saint-Gilles hatte am Vortag stattgefunden. Die wichtige Begegnung, die ich ihnen angekündigt hatte und auf die sie für Narcisse stolz waren, würde uns zurück nach Paris bringen. Es bestand also kein Grund zur Eile.
    Nach meiner ersten spontanen Reaktion konnte ich ihr Vorgehen nachvollziehen. Seit achtzehn Jahren war das Familienleben ohne ihn weitergegangen. Sie hatten seinen Tod, als sie von ihm erfuhren, beweint und seither viele Frühlinge und Herbste ohne ihn durchlebt. Für Vater Pelletier ist der kleine dreijährige Narcisse, der fast den ganzen Tag auf dem Schoß seines Onkels verbrachte, mittlerweile wichtiger als jener erwachsene Sohn, der dem Totenreich entstiegen ist.
    Wir schieden als gute Freunde, und ich machte in der noch lauen Nachtluft einen kleinen Spaziergang durch das verschlafene Städtchen. Hinter der Kirche ging der Halbmond auf. Ich ging bis zum Flussufer, und als ich wieder Richtung Pfarrhaus zurückkehrte, entdeckte ich Narcisse, der in einem Graben kniete, sich übergab und weinte. Schluchzend gestand er mir, dass er seine Freunde zur Wirtschaft begleitet und am Ende das Glas Wein, das sie ihm seit elf Uhr morgens angeboten hatten, angenommen hatte. Ein zweites, noch ein drittes … er könne sich nicht mehr erinnern. Doch weil er sich, selbst in betrunkenem Zustand, immer noch wenig redseligzeigte, waren die drei Tunichtgute seiner bald überdrüssig geworden, in eine andere Wirtschaft weitergezogen und hatten ihn allein und bald auch elend zurückgelassen. Ich half ihm aufzustehen, das Gesicht zu waschen, und tröstete ihn. Doch nein, er brauchte keinen Trost, denn soweit ich feststellen konnte, verspürte er weder Scham noch Bedauern, diese Gefühle sind ihm fremd. Er wollte begreifen, was ihm widerfahren war, und ich erklärte es ihm. Der Wein, den andere über alle Maßen viel und gerne trinken würden, bekomme ihm nicht, verursache ihm Schwindelgefühle und wirke in ihm wie Gift. Seine alten Freunde hätten sich das nicht vorstellen können und ihm sicher keinen Schaden zufügen wollen. Wenn er Kopfschmerzen verspüre, so würden diese am folgenden Tag verschwunden sein. Er solle nur weiter abstinent bleiben, wenn er sich damit wohlfühle. Meine Erklärungen beruhigten ihn,

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