Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
auszuarten drohte, und riefen die Störer unter Androhung des Raumverweises zur Ordnung. Révérend Père Leroy schien mit meiner Antwort zufrieden.
Die Frage von Colonel Sebastiani zur Menschenfresserei überraschte mich nicht. Nachdem ich freimütig gestanden hatte, zu diesem Thema keinerlei Hinweise gesammelt zu haben, gab ich meiner Überzeugung Ausdruck: Narcisse Pelletier habe nichts von einem Krieger, ja nicht einmal einem Aufrührer. Seine Verletzungen am linken Ohr sowie am Oberschenkel müssten nicht unbedingt von einem Kampf herrühren. Und vor allem schließe sein ruhiger und zurückhaltender Charakter aus, dass er nach errungenem Sieg jemals anStammeskämpfen und anderen barbarischen Orgien teilgenommen habe. Ich hob hervor, dass bei einer Gelegenheit, als ein australischer Häftling sich erlaubt hatte, die Hand gegen ihn zu erheben, Narcisse den Schlägen, ohne sich zu wehren, ausgewichen sei und damit eine Sanftmut bewiesen habe – mir kam die Formulierung aus einem an Sie gerichteten Brief wieder in den Sinn –, eine Sanftmut wahrhaft wie aus dem Evangelium. Diese letzten Worte formulierte ich mit einer an den Révérend Père Leroy gerichteten ironischen Verbeugung. Das Publikum war erheitert. Ich begriff nicht sofort, dass ich mir völlig unnötigerweise einen Todfeind gemacht hatte.
Monsieur Decouz – welchen Sie mir auf unserem Heimweg als einen «großzügigen Mäzen» beschrieben haben, der überdies «gewissenhaft kompiliert, der aber selbst auf seinen abenteuerlichsten Expeditionen niemals über Clermont-Ferrand hinausgekommen ist» – eröffnete nunmehr eine grundlegende Debatte, deren Angemessenheit ich anerkenne, wenngleich ich zu entgegengesetzten Schlussfolgerungen komme. Er stellte verbindlich voran, dass er nicht an der Realität dieses Abenteuers zweifele, und unterstrich das junge Alter und niedrige intellektuelle Niveau des Matrosen Pelletier. Wenn dieses Schicksal einem Erwachsenen, einem Offizier oder anderen Mann von Welt zugestoßen wäre, hätte dieser dann auch alles vergessen und den Rang des Geringsten unter den Wilden eingenommen? Hätte er nicht in den Schatzkammern seines Verstandes und seiner Erziehung wie auch in den Tröstungen der Religion – und hier kam seine Verneigung vor dem Révérend Père Leroy – die Kraft gefunden, der moralischen Verrohung zu widerstehen, die dem Matrosen sichtbar anhafte? Inmitten der Wilden überleben, indem man also die ergreifendsten Auszüge aus den Epistulae ex Ponto und der Odyssee deklamierte und sein Exil mit Ovid und Homer teilt …
Wie Sie wissen, habe auch ich mir jene Frage gestellt. Sollte man, um wahrhaft wissenschaftlich vorzugehen, an unbekannten Strändenhier einen Ingenieur, dort einen Gelehrten der Sorbonne und an einem dritten Ort einen Kapitän absetzen und nach achtzehn Jahren zurückkehren und begutachten, wem von ihnen es gelungen wäre, den Wilden das kleine Einmaleins und die Fabeln von La Fontaine nahezubringen? Diese Bemerkung verfehlte am Rednerpult ihre scherzhafte Wirkung und schien Ausdruck einer Arroganz, von der ich innerlich weit entfernt war. Sie haben die Diskussion geschickt gelenkt, und so konnte ich meine Antwort näher ausführen. Was Narcisse Pelletier im Umgang mit den Wilden verloren hatte, war nicht nur alles gewesen, was er mit fünfzehn Jahren erlernt hatte, das Matrosenhandwerk nämlich, oder im Alter von zehn oder fünf Jahren, die Fähigkeit zum Gespräch, in die Zukunft zu denken, grundlegendes Vokabular, die Bandbreite an Emotionen, sondern selbst das, was man gewissermaßen mit der Muttermilch aufsaugt: die Vornamen seiner Geschwister, das Antlitz seiner Mutter, die ersten Silben. Wenn man Bildung, wie ich, als Gebäude mit verschiedenen Stockwerken begriff, so gehörten die Kenntnisse, an die man sich laut Monsieur Decouz klammern kann, zum dritten Stockwerk, während Narcisse alles, bis hinunter auf die Grundmauern, abhandengekommen war. Diese Ausführungen konnten nicht sehr überzeugen, doch stand das Schlimmste noch bevor.
Der folgende Redner, den ich nicht kannte, hatte mein Büchlein gelesen und äußerte sein Wohlwollen. In den Passagen über den Pazifik hätte ich die melanesische Inselgruppe beschrieben, doch von Australien lediglich die Hafenstadt Sydney. Ich nickte zustimmend. Ich hätte also keinerlei Erfahrung mit den Wilden in Australien? Das konnte ich, der ich mich in keiner Materie für einen Experten halte, nur bestätigen. Der Vorstoß war geschickt, und er
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