Was mit Rose geschah
oder?«
Endlich macht Ivo die Kippe aus.
Ich schöpfe allen »Joe Gray« auf die Teller, und sie fallen darüber her wie verhungernde Dingos. Ivo isst allerdings nur ein paar Löffel, schiebt den Teller weg und steht auf. Er verlässt den Wohnwagen, obwohl es noch regnet. Es bleibt eine Art Vakuum zurück, das die gute Stimmung in sich einsaugt. Manchmal, das schwöre ich, weiß ich einfach nicht, was in ihn gefahren ist. Ich weiß, dass jeder ab und zu deprimiert ist, aber bei ihm ist es anders.
Als wir gen Süden fahren und Frankreich wärmer und hügeliger und waldiger wird, denke ich über das Glück nach. Ich frage mich, ob es stimmt, dass manche Leute bei der Geburt Glück mitbekommen und andere nicht. Vermutlich schon. Abgesehen davon, dass manche reich geboren werden und andere arm – und ich weiß, man kann darüber streiten, ob Geld an sich eine gute Sache ist –, gibt es Menschen, die mehr leiden müssen, als gerecht ist. Nehmen wir doch mal Großonkel. Er hatte zwei Brüder, die an der Familienkrankheit gestorben sind. Er war der einzige Junge seiner Generation, der überlebte – so wie Lon Chaney jr. in Der letzte Mohikaner , den wir früher zusammen angeschaut haben. Dann heiratete er und hatte zwei Söhne, die als Baby starben – Mama sagt, es käme daher, dass Großtante Marta auch seine Cousine ersten Grades war und sie vermutlich beide die Krankheit in sich trugen. Dann bekam er eine Tochter und einen Sohn – der Sohn war Onkel Ivo und die Tochter meine Tante Christina. Zuerst dachten sie, mit Ivo wäre alles in Ordnung, doch dann wurde er krank. Dann starb Großtante Marta an Krebs. Ivo war damals erst vierzehn – genauso alt wie ich –, das war also auch schrecklich. Zwei Jahre später fuhren sie nach Lourdes, und durch ein Wunder wurde Ivo gesund. Doch zur gleichen Zeit starb meine Tante Christina – die erst siebzehn war – bei einem Verkehrsunfall. Es war fast, als hätte sie sterben müssen, damit Ivo leben konnte. Ich finde, das sind furchtbar viele Todesfälle für eine Familie – ich meine, das ist doch wirklich nicht normal. Außer vielleicht in Afrika. Und als wäre das noch nicht genug, lief Ivos Frau weg und ließ Ivo mit Christo allein, und Großonkel hatte seinen Autounfall. Trotzdem, obwohl es wirklich großes Pech war, ist Großonkel ziemlich fröhlich. Ivo aber, der auch eine Menge Pech gehabt hat (obwohl er seine Brüder nie kennengelernt hat und sie daher vermutlich nicht vermisst), ist nicht fröhlich. Großmutter sagt, er und seine Schwester hätten sich sehr nahe gestanden – man nannte sie irische Zwillinge, was heißt, dasssie mit weniger als einem Jahr Abstand geboren wurden. Nach Christinas Tod war er nie mehr derselbe. Allerdings kann ich mir vorstellen, dass es einen ganz schön verändert, wenn zuerst die Mutter stirbt und man dann durch ein Wunder geheilt wird. Vielleicht hat er ein schlechtes Gewissen, weil er als Einziger überlebt hat. Jedenfalls ist es nicht einfach mit ihm. Er ist furchtbar jähzornig. Daran muss ich manchmal denken, wenn Großonkel auf Rose schimpft, weil sie weggelaufen ist. Onkel Ivo hat schon üble Sachen zu mir gesagt, selbst als ich klein war, und das war nicht fair. Ich wurde immer wütend auf ihn, aber jetzt macht es mir nicht mehr so viel aus. Mama hat mal gesagt, dass es ihm furchtbar wehtun muss, mich zu sehen – wo ich doch praktisch ein Unfall war, aber gesund bin –, während sein eigener Sohn und der einzige Erbe des Namens Janko so krank ist.
Später am Abend liege ich im Klappbett in Großmutters Wohnwagen. Sie schläft am anderen Ende im großen Bett, und der Vinylvorhang zwischen uns ist geschlossen. Wir sind zu zweit in diesem großen Wohnwagen, während die anderen drei in Großonkels kleinerem schlafen. Ich nehme an, sie sind es gewöhnt. Trotzdem kann ich nicht schlafen. Nach dem Abendessen habe ich Christo hinüber ins Bett gebracht und noch gehört, wie Großonkel zu Großmutter etwas über Kinder und den Fluch gesagt hat, und bevor die Tür zufiel, hat sie ihn zum Schweigen gebracht und gesagt, er solle nicht so dumm sein. Aber ich mache mir schon Gedanken, wo doch so viel Schlimmes passiert ist.
Ivo saß im anderen Wohnwagen, wo er rauchte und ins Leere starrte, obwohl er sich zusammenriss, als er mich und Christo sah.
»Alles klar?«, fragte ich.
»Ja.«
»Hast du keinen Hunger?«
»Nein.«
»Freust du dich auf morgen?«
Er zuckte mit den Schultern. Ich kann nicht verstehen, weshalb er sich nicht
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