Was mit Rose geschah
Sie ihn vielleicht finden.«
»Das wäre doch ein Anfang.«
Ich notiere mir, was sie sagt; alles ist ziemlich vage, aber besser als gar nichts.
»Darf ich fragen, weshalb Sie so wenig Kontakt zu Ihrer Familie haben, Miss Janko?«
»Das dürfen Sie nicht. Es hat nichts mit Rose zu tun. Eigentlich… wir sind einfach verschieden. Ich und Tene. Ich will nicht in der Vergangenheit leben. Wozu soll das gut sein?«
Sie sagt es in nüchternem Ton.
»Und was ist in diesem Fall die Vergangenheit?«
Die Züge um ihren Mund verhärten sich. »Sagen wir einfach, sie schätzen es nicht, dass ich in einem Haus wohne. Ich bin quasi zur anderen Seite übergelaufen.«
Sie zuckt mit den Schultern. Ihre Bewegungen wirken genau wie ihre Stimme abrupt und abgehackt.
»Könnte Ivo Rose etwas angetan haben?«
Sie sieht mich groß an. Dann bedenkt sie mich mit einem vernichtenden Blick und lächelt – aus Mitleid, weil ich so dumm bin. »Meine Familie hat sie nicht um die Ecke gebracht, falls Sie das glauben. Die Vorstellung, dass Tene oder Ivo ihr etwas angetan haben könnten … da sind Sie wirklich auf dem Holzweg.«
Sie schüttelt den Kopf und wirkt aufrichtig belustigt. Sie beißt sich auf die Lippe und verschmiert damit etwas von der roten Farbe.
»Es war nur eine Überlegung. Ich muss alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.«
»›Alle Möglichkeiten‹.« Sie lässt sich die Worte auf der Zunge zergehen und lächelt, als wäre ich ein Vollidiot, ein kleiner Junge, der Detektiv spielt. »In meiner Familie gibt es sicher eine ganze Menge, vor dem sie davonlaufen wollte. Fragen Sie doch einfach nach. Ich weiß nicht, wo sie ist. Wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen sagen.«
Als Luella Janko aufsteht, hält sie noch einmal kurz inne und hängt sich die Tasche über die Schulter, in deren Tiefen sich meine Visitenkarte verloren hat, »für den Fall, dass Ihnen noch etwas einfallen sollte«. Ich mache mir keine großen Hoffnungen.
»Einen Moment …«
Sie dreht sich ungeduldig um.
»Hatten Sie Rose gern?«
Sie wirkt ehrlich überrascht, als hätte sie noch nie daran gedacht. »Gern? Ich bin ihr nur ein Mal begegnet. Wie gesagt, sie war still, hat kaum geredet, eine graue Maus. Sie hinterließ keinen tiefen Eindruck.«
Dann geht Luella Janko hinaus und lässt die Schwingtür mit boshafter Kraft hinter sich zufallen. Sie trägt Schuhe mit hohen Absätzen, die ein hübsches klackendes Geräusch machen. Sie sind rot und glänzend wie ihr Lippenstift.
Rose Wood scheint auf niemanden großen Eindruck gemacht zu haben; nicht einmal auf ihren eigenen Vater. Ich spüre eine gewaltige Wut auf die Leute, mit denen ich bisher gesprochen habe; ein behütetes neunzehnjähriges Mädchen verschwindet, und niemand rührt einen Finger, meldet es auch nur der Polizei.
Plötzlich bin ich fest entschlossen, sie zu finden, eben weil niemand sonst interessiert zu sein scheint.
Als ich nach Hause komme, erwartet mich eine Nachricht von Hen. Er hat mit einem Bekannten aus dem Vermisstendezernat gesprochen. Dort weiß man nichts von Rose, also hat niemand sie als vermisst gemeldet. Besser gesagt, niemand wollte sie zurückhaben. Ich weiß, dass Frauen – vor allem junge Frauen – in Romafamilien sehr niedrig angesehen sind und Schwiegertöchter auf der untersten Stufe stehen, aber dennoch … Trotz allem, was Luella Janko gesagt hat, könnte Rose doch tot sein. Menschen sterben, selbst wenn es kein Verbrechen gibt.
Ermittlungen laufen immer gleich ab: Man hat Informationen und stellt eine Arbeitshypothese auf. Dann sammelt man weitere Informationen und prüft, ob sie zu der Hypothese passen. Wenn nicht, muss man die Hypothese entsprechend abändern. Doch Informationen allein sind nicht viel wert. Informationen sind Gerüchte, Anekdoten, Meinungen. Sie sind das, was die Leute einem erzählen, und es gibt viele Gründe dafür, zu lügen. Man muss die Informationen in Fakten verwandeln – indem manprüft und die Gegenprobe macht, indem man alle verfügbaren Quellen nutzt. Wenn man ein oder zwei Informationen bestätigt hat und alles zusammenpasst, kann man anfangen, von Fakten zu sprechen. Doch selbst Fakten nützen noch nichts, wenn man vor Gericht ziehen will. Man muss die Fakten in Beweise verwandeln, womit ich beglaubigte Dokumente, Fotos, Filme, rechtsmedizinische Untersuchungsergebnisse, Geständnisse und in letzter Konsequenz Sachverständige meine. So habe ich meinen Beruf gelernt. Es gibt keinen Raum für Spekulationen oder
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