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Was mit Rose geschah

Was mit Rose geschah

Titel: Was mit Rose geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stef Penney
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gehalten.
    Ich übrigens auch.
    Es heißt, der Alkohol würde einen umbringen, aber das stimmt nicht; sonst wären wir alle tot. Die Traurigkeit bringt einen um, jene Traurigkeit, die so schwer und überwältigend ist, dass man sie nüchtern und bei klarem Verstand nicht ertragen kann.
    Als Jen mich verließ, dachte ich, die Traurigkeit könnte nicht größer sein, der Schmerz nicht unmittelbarer und dass ich es nicht überleben würde. Aber ich habe mich geirrt, denn hier bin ich. Zugegeben, ich trinke, bin aber kein Alkoholiker. Ich kenne den Unterschied. Wenn es zu schlimm wird, und das wird es auch nach zwei Jahren noch, trinke ich, bis es nicht mehr so wehtut.Das Erste, was ich je von Jen wusste, war, dass sie ein Herzgeräusch hatte. Ich war acht Jahre alt und auf dem Heimweg von der Schule. Ein Mädchen aus der Nachbarschaft, dessen Eltern einen China-Imbiss in der Nähe hatten, kam auf mich zu. Sie wirkte überhaupt nicht schüchtern.
    »Ich habe ein Geheimnis in meinem Herzen«, verkündete sie.
    »Ein was?«
    »Ein Geheimnis.« Sie legte ihre Hand auf die Magengrube.
    »Da ist aber nicht dein Herz. Das ist hier.« Ich deutete auf mein linkes Schlüsselbein.
    »Meins ist hier«, beharrte sie. »Und es hat ein Geheimnis.«
    Ich überlegte. »Wieso erzählst du mir das?«
    »Der Arzt hat gesagt, ich kann daran sterben.«
    Sie wirkte nicht betroffen. Eher stolz, als wäre es etwas Besonderes. »Wahrscheinlich aber nicht.«
    »Oh.« Ich war verblüfft. »Hat er gesagt, dass es ein Geheimnis ist?«
    »Er hat gesagt …« Sie runzelte konzentriert die Stirn. »Vielleicht nicht. Aber es ist sehr, sehr leise. Du kannst es nur hören, wenn er eine Schlange darüberlegt.«
    Sie hatte richtig schwarze Augen und glänzendes schwarzes Haar, das zu einem erstaunlich geraden, geometrischen Pony geschnitten war. Ich war fasziniert; noch nie hatte ich so glattes und glänzendes Haar gesehen, außer bei einer Puppe.
    »Tschüss dann.«
    Sie lief in eine Seitenstraße.
    Ihre Eltern waren vor der Revolution aus Shanghai geflohen. Jen war ihre jüngste Tochter. Sie hatte das Wort »Herzgeräusche« natürlich nicht verstanden, und als ihre Mutter es erklärte, beschrieb sie es wie das Flüstern, wenn man sich ein Geheimnis erzählt. Nach dieser zufälligen Begegnung sah ich sie noch ab und zu, aber wir sprachen nicht mehr miteinander. Wir besuchten unterschiedliche Schulen und bewegten uns in unterschiedlichen Kreisen. Erst Jahre später, nachdem wir beidevon zu Hause weggegangen waren und nur für die Pflichtbesuche bei unseren Eltern zurückkamen, liefen wir uns wieder über den Weg – fast an derselben Straßenecke wie damals. Sie hatte immer noch das wunderbare Haar, obwohl sie es zu einem stacheligen Knoten aufgesteckt trug, aus dem Strähnen wild herausragten. Grellvioletter Lidschatten war in der Form von Flügeln über ihren schrägen Augen aufgetragen, was in diesen Hippie-Zeiten sehr ungewöhnlich war. Sie sah fantastisch aus. Ich konnte mich nicht an ihren Namen erinnern.
    »Ich heiße Jen!« Sie schmollte, als wäre sie gekränkt. Das wollte ich nun wirklich nicht.
    »Ich erinnere mich aber an dein Herzgeräusch. Ein Geheimnis in deinem Herzen, so hast du dazu gesagt.«
    Sie machte große Augen und prustete los. »Du bist der Zigeunerjunge!«
    Ich nickte. Wir lächelten beide.
    »Meine Eltern haben mich jahrelang keinen Sport machen lassen. Eine Zeitlang war ich richtig fett.«
    »Aber jetzt geht es?«
    »So schlimm sah ich nun auch wieder nicht aus!«
    »Ich meinte dein Herz. Ist es jetzt in Ordnung?«
    »Ich denke schon. Das Geräusch ist verstummt. Eigentlich bin ich ziemlich hart im Nehmen.«
    Das war nicht gelogen.
    So fing es an, obwohl wir erst ein paar Jahre später miteinander ausgingen. Jen hatte einen Freund – er war auch auf der Kunstakademie gewesen. Jemand, der aufregender war als ich, ein Bohemien. Ich hatte auch eine Freundin, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann, in welcher meiner mittelfristigen Beziehungen ich damals steckte. Doch irgendwann kamen wir zusammen, denn so läuft es, wenn man dem einzigen Menschen begegnet, mit dem das Leben einen Sinn ergibt; der weiß, was man denkt, bevor man es ausgesprochen hat, und dessen Sätze man vollenden kann, ohne dass er es einem übel nimmt.
    Nein, das stimmt alles nicht. Es klingt viel zu banal. Ich habe mich in Jen verliebt, weil sie der fehlende Teil meiner selbst war und ich der fehlende Teil von ihr. Wir überlegten nicht lange – natürlich

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