Was mit Rose geschah
das erste Anzeichen von Aggression. »Wenn er ein Rom gewesen wäre, hätten wir es erfahren. Wir hätten es gehört. Das wissen Sie genau. Aber da war nichts – also …«
Er lehnt sich zurück und trinkt sein Glas aus. Es ist eine Art Abschluss.
»Sie waren sehr hilfsbereit, Mr Janko, aber ich würde gerne noch mit Ivo sprechen. Ist er hier?«
Tene schüttelt den Kopf. »Er war am Boden zerstört, als sie gegangen ist. War allein mit diesem winzigen Baby. Seine liebe Mutter, Gott segne sie, war auch schon von uns gegangen. Was sollte er tun?«
»Was hat er denn getan?«
Tene schaut mich wieder mit wildem Blick an. Der Löwe zeigt die Krallen. »Was ein Mann eben tut; er ist dem Kind Vater und Mutter zugleich. Er zieht ihn ganz alleine auf.«
»Er hat nicht wieder geheiratet?«
Tene schüttelt den Kopf. »Es ist schwer für ihn. Mit dem kranken Kind. Ivo tut alles für ihn. Christo ist sein Leben.«
Ich nicke mitfühlend. »Die beiden leben also hier bei Ihnen?«
»Es war schrecklich für Ivo. Er kann Ihnen nichts sagen. Er hat bei dem Baby geschlafen, nachdem sie gegangen ist. Er hat gewartet, dass sie wiederkommt. Nichts zu wissen – das ist am schlimmsten. Hätte sie wenigstens eine Nachricht hinterlassen, dass sie nicht wiederkommt – das wäre besser gewesen. Dann hätte er nicht monatelang gewartet … jahrelang. Er ist darüber fast verrückt geworden. Wenn Sie das jetzt alles wieder aufrühren – ich will nicht, dass er wahnsinnig wird. Er ist alles, was der arme Kleine hat.«
»Ich verstehe. Aber er ist immer noch ihr Ehemann. Finden Sie es nicht seltsam, dass Roses eigene Familie auch nichts von ihr gehört hat?«
Tene schnaubt ungeduldig. »Wenn ich so etwas getan hätte, würde ich mich auch schämen, was von mir hören zu lassen.«
»Und wenn ihr etwas zugestoßen ist und sie nicht zurückkommen konnte?«
»Nicht zurückkommen konnte?«
»Es wäre doch möglich, oder?«
»Sie meinen, sie wäre … entführt worden?«
»Nicht unbedingt. Ihr könnte auch später noch etwas zugestoßen sein. Wenn ich herausfinde, was geschehen ist … könnte das für alle hilfreich sein.«
Tene schnaubt erneut auf. »Mein alter Vater hat gesagt: ›Du sollst keine schlafenden Hunde wecken.‹ Ich habe diesen Rat immer sehr nützlich gefunden.«
Ich muss unwillkürlich lächeln. Diesem Rat begegnet man als Privatdetektiv nicht oft, obwohl ich ihn meinen Klienten gern ab und zu mit auf den Weg geben würde – im Durchschnitt ein- bis zweimal pro Woche. Aber ich mache es nie.
»Mein Vater hat das auch immer gesagt.«
»Na, sehen Sie. Ich bitte Sie, meinen Sohn nicht zu belästigen. Er wird Ihnen nicht helfen können, und Sie werden ihm nur wehtun.«
»Ich verstehe, was Sie meinen, kann Ihnen aber nicht versprechen, dass ich nicht mit ihm reden werde.«
Tene funkelt mich an und scheint dann einen Entschluss zu fassen. »Schon gut, Mr Lovell. Sie verdienen auch nur Ihren Lebensunterhalt.«
Als ich aufstehe und meine Karte aus der Tasche ziehe, stoße ich mit dem Knie gegen den Tisch. Tene streckt die Hand aus, um ihn festzuhalten, und hebt dabei die Spitzendecke an. Jetzt erst bemerke ich schockiert, dass er im Rollstuhl sitzt.
»Es tut mir leid …«
Über seinen verkümmerten Beinen, die so gar nicht zum Rest des Körpers passen, liegt eine karierte Decke. Es ist mir peinlich. Ich kann nicht glauben, dass ich es nicht früher bemerkt habe.
Tene verzieht keine Miene.
»Falls Ihnen noch etwas einfällt, Mr Janko – falls Sie sich an etwas erinnern, das wichtig sein könnte – egal was … man kann ja nie wissen …«
Kath Smith wartet draußen, um zu sehen, ob ich auch wirklich verschwinde.
»Haben Sie, was Sie wollten?«
»Ja, vielen Dank für alles. Sie können mir wohl nicht sagen, wann genau Rose weggegangen ist? Oder mit wem?«
»Wir waren nicht da. Nur Tene, Ivo und sie. Wir haben erst später davon gehört.«
»Wissen Sie, wo ich Ivo finde?«
»Das Letzte, was wir gehört haben, war, dass er irgendwo oben in den Fens unterwegs ist.«
»Wo?«
Pause.
»Richtung Wisbech. Glaube ich.« Sie zündet sich eine Zigarette an. »Das Letzte, was wir gehört haben.«
»In Ordnung. Danke.« Ich lächle munter. »Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Mrs Smith.«
Ich stapfe vorsichtig durch den Schlamm zu meinem Auto. Plötzlich bemerke ich im kleinsten Wohnwagen, einem Jubilee, eine flüchtige Bewegung – vielleicht von einem Vorhang. Ich frage mich, ob Ivo Janko sich in diesem Wohnwagen
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