Was mit Rose geschah
ich nicht vertreiben konnte. Mir blieb die Luft weg, und ich dachte, ich würde explodieren. Als Mama sagte, sie würde uns ein bisschen allein lassen und zu Großmutter hinübergehen, dachte ich, ich müsste sterben, obwohl ich es mir die ganze Zeit heimlich gewünscht hatte. Als sie gegangen war, sagten wir erst mal nichts. Stella trommelte mit den Fersen gegen die Sitzbank.
»Und ihr wohnt hier wirklich beide zusammen?«
Sie klang ungläubig. Nicht gemein oder so, nur als könnte sie es absolut nicht verstehen.
»Ja.«
»Wo ist dein Bett?«
»Hier«, ich zeigte auf die Bank, auf der wir saßen.
»Aber kannst du ganz für dich sein?«
Ich dachte darüber nach. »Nicht so richtig. Ich kann den Vorhang hier zuziehen …«
Ich führte es vor, aber dadurch wurde der Raum so klein und stickig, dass ich den Vorhang in Panik wieder öffnete.
»Ich glaube, das könnte ich nicht aushalten. Dass ich nicht in mein eigenes Zimmer gehen und die Tür zumachen kann. Ich meine, deine Mutter ist wirklich nett, aber wenn du nicht mal allein Musik hören kannst, du weißt schon … oder wenn du schlechte Laune hast.«
»Es ist schon in Ordnung. Ich denke nicht darüber nach.«
»Oh.«
Sie lächelte.
Aber ich wusste, dass ich von nun an darüber nachdenken würde. Ich würde nicht mehr damit aufhören können.
Wir tranken Tee und aßen Kuchen und redeten über The Smiths, unsere gemeinsame Lieblingsband, genau wie in der Schule, aber etwas an unserem Gespräch hatte sich verändert; ich schmeckte etwas Heißes und Saures, und meine Hände schienen doppelt so dick wie sonst zu sein. Als wäre ich ein Freak.
Und dann passierte etwas wirklich Schlimmes. Sie sagte: »Ähm … wo ist die Toilette?«
»Die ist draußen.«
»Draußen?«
Stella schien entsetzt. Als hätte ich gesagt, auf dem Mars. Oder dass wir keine hätten. Mal ehrlich, mir war gar nicht in den Sinn gekommen, dass eine Außentoilette schlimm sein könnte. Ich meine, warum sollte man die Toilette in seiner Nähehaben – besser, sie ist so weit weg wie möglich, oder? Anders ist es doch ekelhaft.
»Ja, sie ist … wir haben einen Schlüssel. Sie ist nur für uns …«
Wir gingen nach draußen, und ich zeigte ihr die Toilette. Eine Kabine im Waschhaus. Leider war Großonkel gerade drin. Wir mussten warten, und dann kam er im Rollstuhl heraus und wirkte ein bisschen genervt, weil wir davorstanden und das seltsame gorjio -Mädchen ihn aus einer Toilette herauskommen sah. Stella zuckte zusammen, als ich sie vorstellte, begrüßte ihn aber. Es war schrecklich.
Stella ging hinein, und als sie wieder herauskam, war sie ziemlich still. Wir gingen wieder in den Wohnwagen und redeten, aber ich wollte am liebsten sterben. Ich gab Stella keine Schuld. Es war ja nicht, als hätte sie über unseren armen alten Lunedale die Nase gerümpft. Ich weiß nur noch, dass ich dachte: Das mach ich nie, nie wieder. Ich zeige niemandem mehr, wo ich wohne, auch Leuten nicht, die ich mag.
Und ich mochte sie. Ich mochte sie wirklich. Sie war die beste Freundin, die ich in der Schule oder anderswo jemals hatte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fuhr Mama sie nach Hause. Sie wohnte nördlich des Stadtzentrums, in einer Gegend mit hübschen, frei stehenden Häusern mit Gärten davor und dahinter und außerdem noch Platz für die Garagen, für Fahrräder und allen möglichen Kram. Ich war noch nie bei ihr gewesen, und nun begriff ich, welchen Schock unser Wohnwagen ihr versetzt haben musste – sie war an ihr eigenes, schön eingerichtetes Zuhause gewöhnt mitsamt einer kleinen Schwester, einem Hund und einer Schildkröte, einem Vater, der Physiklehrer war, und einer Mutter, die halbtags in einer Modeboutique arbeitete. Alles war so nett und gorjio , ganz anders als die Jankos mit ihren toten Jungen und der gemieteten Toilette und dem Rollstuhl und ihrem furchtbaren, fatalen Unglück.
Ich winkte zum Abschied, als Mama den Wagen wendete, und Stella winkte von der Haustür aus zurück. Mir war, als würdesie in ein fremdes Land zurückkehren und ich sie nie wiedersehen – jedenfalls nicht so wie zuvor.
Mama sagte: »Sie scheint ein nettes Mädchen zu sein.«
»Mmm«, sagte ich.
Dann sprachen wir nie mehr darüber.
In der Schulbücherei las ich ein Buch namens Auf der Straße: Eine bedrohte Lebensweise . Ich fragte mich, was andere Leute über uns dachten. Dieses Buch hatte ein gorjio für andere gorjios geschrieben, und obwohl es sich an Schulkinder richtete, schien es zu dumm und
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