Was mit Rose geschah
wird und das Licht einschaltet. Es ist sonderbar, plötzlich komme ich mir älter vor als er. »Bis nachher.«
»Ja.«
»Kommt ihr zum Abendbrot rüber?«
»Klar, wir kommen nachher.«
Ich sehe zu Christo hinüber, der meinen Blick ruhig erwidert. Er wirkt ganz normal.
»Okay, Christo?«
Ich gehe erleichtert hinaus und frage mich, ob Ivo jetzt weiter stöhnt und Salz wirft. Vermutlich ist es ohnehin egal. Oder sogar in Ordnung. Es ist eben Hokuspokus. Kerzen und komische Gerüche und ein bisschen Stöhnen.
Was kann das schon schaden?
25
Ray
An einem Nachmittag fahren wir nach Cambridge, zu dem Krankenhaus, in dem Tene damals behandelt wurde. Hen kennt einen Kinderarzt dort – sie sind zusammen aufs Internat gegangen. Gavin ist Ire, nicht aus einer Oberschichtfamilie wie Hen, er hatte ein Stipendium. Er sieht immer erschöpft aus. Ich mag ihn gern.
»Es ist also denkbar, dass eine Frau, die zwei oder drei Monate zuvor ein Baby geboren hat, einfach wegläuft und alles hinter sich lässt.«
Wir sitzen in der Kantine des Krankenhauses und sprechen über postnatale Depressionen. Gavin hat nicht einmal genug Zeit, um das Gebäude zu verlassen. Er schaufelt eine Portion kalt gewordenen Nudelauflauf in sich hinein, während wir uns unterhalten.
»Um das zu tun, muss man nicht psychotisch sein. Dafür kann es alle möglichen Gründe geben.«
»Der Mann hat gesagt, dass sie sich, bevor sie ging, verhalten habe, als existierte das Baby nicht. Dass sie es vielleicht sogar geglaubt hat.«
Gavin zuckt mit den Schultern. »Das kann ich mir durchaus vorstellen. Es kann alle möglichen Arten von Symptomen geben. Psychische Erkrankungen sind eine schwammige Angelegenheit – schwer zu greifen. Da ist im Grunde alles möglich.«
»Selbstmord?«
»Alles ist möglich. Schön, dass ich euch helfen konnte!« Er grinst. »Ich schicke euch die Rechnung.«
Er macht Witze. Aber wir sind nicht nur aus diesem Grund gekommen. Ich beschreibe Christos Symptome, so gut ich kann. Gavin hört aufmerksam zu, sein Gesicht absolut konzentriert. Als ich fertig bin, blickt er auf.
»Was meinst du, Gavin?«
»Ich habe nicht den blassesten Schimmer.«
Wenn ich Leuten wie ihm begegne, wünsche ich mir immer, ich wäre ein Experte für irgendetwas. Selbst wenn man die Antwort nicht weiß, flößt man den Leuten dennoch Respekt ein.
»Ich würde ihn mir trotzdem gern ansehen. Ihr sagt, der Vater sei genesen?« Er kratzt seinen Teller sauber. »Nicht zu fassen, dass ich dieses Zeug esse. Meint ihr, ihr könntet die beiden nach London bringen – in die Praxis?« Gavin arbeitet auch noch als Konsiliararzt in einer Privatpraxis in der Harley Street. Er muss wirklich sehr bedeutend sein.
»Ich hatte gehofft, dass du das sagst. Ray wird sein Bestes tun.«
»Danke, Gavin. Und da wir gerade dabei sind, könntest du uns noch einen Gefallen tun …?«
Obwohl er zögert – es hat etwas mit dem hippokratischen Eid zu tun, danach habe ich nicht mehr zugehört –, bringt er uns zu einem Typen in der Verwaltung, der in den Akten nachschaut. Wenn ich allein hier wäre, würde ich vermutlich nichts erreichen, aber Hens Privatschulakzent und sein Charme öffnen einem alle möglichen Türen – so auch diese.
Wir versichern, dass wir keine medizinischen Einzelheiten erfahren wollen, sondern nur, wann der Betreffende hier war, und nachdem Gavin sich für uns verbürgt hat, erfahren wir, dass ein 54-jähriger Mann namens Tene Janko (von denen es wohl nicht so viele gibt) vor sechseinhalb Jahren, nämlich am 18. Dezember 1979, auf die Station für Wirbelsäulenverletzungen eingeliefert wurde, nachdem er sich bei einem Unfall das Rückgrat gebrochen hatte. Er wurde achtzehn Wochen imKrankenhaus behandelt und verließ dieses dann entgegen dem ärztlichen Rat. Über eine weitere ambulante Behandlung ist nichts bekannt.
Später sagt Hen: »Vielleicht hat sie Selbstmord begangen.«
Wir sind in einer altmodischen Teestube in der Stadtmitte gelandet.
»Und wo ist dann die Leiche?«
»Vielleicht ist sie in einen stillgelegten Grubenschacht gesprungen. Oder einen Brunnen. Sie hätte auch ins Meer gehen können.«
All das ist denkbar, und doch …
»Ivos Tante, Lulu Janko, sagt, Rose sei schon weg gewesen, als Tene den Unfall hatte, und sie hätten damals noch nichts von Christos Krankheit gewusst. Sie sei ›schon lange‹ weg gewesen, so hat sie sich ausgedrückt. Aber Ivo und Tene behaupten beide, Rose sei erst verschwunden, nachdem sie von der Krankheit
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