Was scheren mich die Schafe: Unter Neuseeländern. Eine Verwandlung
Inspektionen der letzten fünfzig Jahre festgehalten wurden. In säuberlicher Schreibschrift steht da, dass im August 1962 ein Truthahn gegen die Windschutzscheibe flog. Der Vogel überlebte dem Eintrag nach die Kollision, und auch ich bin mir sicher: In diesen vier Wänden kann uns nichts mehr passieren.
In Lukas’ Klinik sind alle begeistert von unserem Monster. Dass er sich für den Kauf eines solch urigen wie urtypisch kiwianischen Gefährts entschieden hat, wird dem deutschen Doktor hoch angerechnet. Als Bekenntnis zu Land und Leuten kommt es fast so gut an, als hätten wir einen Eid auf die neuseeländische Flagge geschworen.
Die Krankenschwestern machen Namensvorschläge. ›Big Betty‹ sticht als Favorit für einen Bedford. Selbst die Patienten nehmen Anteil. Ein alter Mann, dem Lukas den Krebs herausoperiert hat, schenkt uns einen Bollerofen aus seinem Wintergarten, damit wir unseren Liebling beheizen können. Ein anderer bringt Lukas Fotos von seiner schrullig ausgebauten Anglerhütte mit, dazu zwei Flaschen selbst gebrautes Bier. Zwei wunderbare Wochenenden lang macht der Hauslaster uns in den Surfbuchten der Banks Peninsula größte Freude, auch wenn er sein Kampfgewicht von sechs Tonnen nur mühsam mit 30 Stundenkilometern den Berg hochschiebt. Dann beginnt der Ärger.
Die Verkehrspolizei kommt persönlich vorbei und droht, Big Betty abzuschleppen. Irgendjemand hat sich anonym beschwert. Wir würden die Kurve vor unserer Einfahrt blockieren. Also stellen wir den Truck weiter abseits ab. Nach acht Tagen schwärzt uns wieder jemand an, denn länger als sieben Tage darf ein Fahrzeug nicht am Straßenrand stehen. Lukas ist ausnahmsweise sauer. Kein Gedanke mehr an Schneeketten.
»Warum reden die Leute nicht direkt mit uns? Halb Lyttelton weiß doch inzwischen, wem der Housetruck gehört.«
»Ist ihnen wahrscheinlich zu unangenehm«, sage ich. »Du kennst doch die Parole: Bloß keine Welle machen.«
»Ja, lieber heimlich denunzieren. Scheint wohl doch nicht nur eine deutsche Eigenschaft zu sein.«
Vielleicht sollte ich Zettel in die Briefkästen werfen: ›Wir sind Deutsche, Sie können uns immer gerne Ihre Meinung sagen‹ – mit Telefonnummer und Adresse. Oder einen Meckerkasten aufhängen. Gibt’s das Wort überhaupt auf Englisch? ›Mahnwesen‹ ist auch nicht so einfach übersetzbar.
Als ich mir bei meinen stets hilfsbereiten Yoga-Nachbarn Unterstützung holen will, laufe ich auf. Nick gibt mir durch die Blume zu verstehen, dass man sich als ›new kid on the block‹ mit den Alteingesessenen arrangieren müsse. Er fliegt in ein paar Tagen in die Antarktis und hat andere Sorgen. Judy backt gerade einen Christmas Cake. Das ist eine genauso heilige Handlung wie für unsereins Adventskranz basteln und muss vor dem Fest geschehen, damit der weinbrandgesättigte Kuchen lange genug durchziehen kann. Ab Weihnachten wird dann jeder, der durch die Tür mit den Gebetsfahnen tritt, ein Stück davon probieren müssen. Judy reicht Chili und Cumin die Schüsseln zum Auslecken, weicht mir lächelnd aus und sagt etwas Verständnisvolles, ohne in irgendeiner Weise Partei zu ergreifen. Bisher habe ich diese diplomatische Gelassenheit immer bewundert. Jetzt stößt sie mir auf. Ich zeige auf das Baby, das in einem Korb von der Decke schaukelt.
»Lässt du den Kleinen eigentlich impfen?«
Ich will Judy provozieren. Ich weiß genau, dass sie nichts von Immunisierung hält. Es ist ein heikles Thema, ideologisch mindestens so belastet wie Haus- und Nachgeburten. Wenn es jemanden gibt, mit dem man nicht darüber diskutieren sollte, dann ist das Frau Richter in gereizter Angriffstimmung.
Ohne lange auf Judys Antwort zu warten, feuere ich mein ganzes Arsenal ab. Ihre Haltung sei ein Luxus der westlichen Länder. Nur möglich, weil andere Eltern impfen. Die Anti-Impf-Lobby sei voller Fanatiker, die Berichte über Nebenwirkungen fälschen. Selbst die armen Kinder auf den Philippinen lasse ich nicht aus: dank Masern schwer entwicklungsgestört oder kurz vor dem Tod. Lukas hat solche Patienten bei seinem ehrenamtlichen Einsatz behandelt. Schon meinem Mann zuliebe nehme ich Judy ihre Abneigung gegen Ärzte und Krankenhäuser krumm. Sie kommt kaum zu Wort. Auf ihren Einwand gegen die Schulmedizin kontere ich: »Warte mal ab, bis du einen Autounfall hast und auf der Intensivstation am Tropf hängst.«
Das ist zu viel des Guten. Judy schaut mich an, als ob ich eine Selbstmordattentäterin sei, die gerade die Reißleine
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