Was sich kusst das liebt sich
das wohl kaum. Doch das hier, das waren richtige, atemberaubende Küsse. Küsse, die sie bisher nur aus den schmalzigen Liebesromanen kannte, die sie ihrer Großmutter aus dem Bücherregal stibitzt hatte.
Neve tat, was jede Heldin aus der Regency-Ära, die etwas auf sich hielt, getan hätte: Sie schlang Max mit einem leisen, verzückten Seufzer die Arme um den Hals, sodass der Kuss noch tiefer, noch heißer wurde, und hörte erst auf, als jemand von der gegenüberliegenden Straßenseite » Nehmt euch gefälligst ein Zimmer!« herüberbellte.
Max bückte sich, um ihre Mütze aufzuheben, die sie im Eifer des Gefechts verloren hatte. Neve versuchte inzwischen, ihre Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie musste das Ganze unbedingt etwas gelassener angehen.
» Also, was ist jetzt?« Max setzte Neve die Mütze auf, zog sie ihr über die Augen und grinste, als sie sie schimpfend zurechtrückte. » Gehen wir zu dir, oder soll ich den letzten Bus nehmen?«
Neve war noch nie besonders gut im Fällen spontaner Entscheidungen gewesen. Selbst die Auswahl einer DVD konnte mit ihr eine nervenaufreibende Erfahrung werden. Um diese Frage gebührend zu überdenken, hätte sie zumindest eine Woche benötigt, aber Max klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden.
» Also, ich… Ich glaube nicht… Ich fürchte, den letzten Bus hast du bereits versäumt«, stieß sie hervor, während sie auf den obersten Knopf seines schwarzen Wollmantels starrte. Hätte sie ihm ins Gesicht geblickt, dann hätte sie garantiert der Mut verlassen. Sie würde ihm einen Kaffee kredenzen und noch eine halbe Stunde seine herrlichen, samtweichen Küsse genießen, und dann würde sie ihn vor die Tür setzen. » Ich schätze, das geht in Ordnung.«
Max nickte. » Cool. Ach, übrigens… Ich weiß noch gar nicht, wie du heißt.«
Kapitel 3
Finsbury Park zählte zu den Stadtteilen Londons, die angeblich stark im Kommen waren, aber noch war davon nicht allzu viel zu spüren. Ging man rechts von der U-Bahn-Station unter der Unterführung durch, dann fand man sich inmitten einer seelenlosen Ansammlung von Taxizentralen und Fast-Food-Restaurants wieder, vor denen sich Gangs von Kapuzenpulli-Trägern tummelten.
Doch Neve wandte sich stets nach links und passierte die kleinen Supermärkte, in denen allerlei exotisches Obst und Gemüse feilgeboten wurde. Dann kam der afrokaribische Schönheitssalon, in dem reihenweise Schaufensterpuppenköpfe mit allerlei Perücken standen, gefolgt vom Fischladen und einem Pub namens Old Dairy , weil sich in dem Gebäude früher eine Molkerei befunden hatte. Als Neves Eltern kurz nach ihrer Hochzeit hier in eine Maisonette gezogen waren, nur ein paar Straßen vom Pub ihrer Großmutter entfernt, hatte es in dieser Gegend hauptsächlich schmuddelige Wettbüros, Wein- und Spirituosenhandlungen und verfallende Häuserzeilen gegeben, die zu winzigen Wohneinheiten umgebaut worden waren. Es war die Art von Gegend gewesen, in der man sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht allzu lange aufhielt. In den vergangenen zehn Jahren jedoch hatten die solide gebauten viktorianischen Reihenhäuser, der große Park und die zehnminütige Fahrt mit der Victoria-Linie zum Oxford Circus immer mehr Angehörige der Mittelklasse angelockt.
Neve konnte sich nicht vorstellen, irgendwo anders zu leben. Okay, sie hatte drei Jahre in Oxford gewohnt, aber den verträumten Türmchen, den mittelalterlichen Kirchen und den Booten am Fluss hatte jener besondere Charme gefehlt, den die grölenden Massen von Fußballfans verströmten, die sich aus der U-Bahn-Station schoben, wenn Arsenal ein Heimspiel hatte, ganz zu schweigen von den romantischen Abenden, an denen die untergehende Sonne gesprenkelte Schatten auf den Parkland Walk warf. Außerdem musste sie hier selbst nach Mitternacht nur zwei Minuten weit gehen, wenn es sie nach einer Dose Cola oder einer Packung Chips gelüstete. Wer verzichtete schon freiwillig auf einen solchen Luxus?
Es war allerdings das erste Mal, dass Neve diese vertrauten Straßen mit einem Mann entlangging, der weder ein Familienmitglied noch schwul war. Worüber sprach man mit einem praktisch Fremden, den man nur zum Knutschen mit nach Hause nahm– und vielleicht auch für diverse weitere mit dem Knutschen einhergehende Aktivitäten? Zum Glück begann Max nun von dem Obdachlosen zu reden, der für gewöhnlich mit einer Flasche Cider unter der Eisenbahnbrücke saß, und dann wollte er wissen, ob sie schon einmal in dem
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