Was sich kusst das liebt sich
und an Jacob Morrisons vernichtender Kritik zu orientieren. Wenn sie sich nicht in Lucy Keeners Welt vertiefte, dann war sie entweder mit Max im Bett oder im Archiv, sprich, zum Schlafen blieb denkbar wenig Zeit.
Von ihrer gesunden Gesichtsfarbe, die sie bis jetzt als Selbstverständlichkeit betrachtet hatte, war bald nicht mehr viel übrig. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und trank literweise Kaffee, um wach zu bleiben.
Trotzdem nickte sie am Freitagnachmittag beim Transkribieren ein und fuhr erschrocken hoch, als ihr Chloe einen Besuch in ihrem Kämmerchen abstattete. » Ich kann nicht fassen, dass ihr immer noch in der Phase seid, in der man kaum zum Schlafen kommt«, sagte Chloe. » Lässt der Reiz des Neuen nicht allmählich nach?«
Neve gähnte. » Du würdest auch einschlafen, wenn du dir stundenlang Lavinia Marjoribanks Gejammer darüber anhören müsstest, dass sie sich ihre literarische Karriere verbaut hat, weil sie Vita Sackville-West nicht erhört hat.«
» Das klingt doch recht spannend– lesbische Eskapaden unter den Mitgliedern der Bloomsbury-Truppe.« Chloe ließ sich auf der Schreibtischkante nieder. » Verrät sie irgendwelche intimen Details über Virginia Woolf?«
» Glaub mir, bei einer derart monotonen Stimme würde sogar die Beschreibung eines flotten Dreiers mit George Clooney und Clive Owen zum Gähnen langweilig klingen.« Neve rieb sich die Augen und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. » Mir ist richtig schlecht vor Erschöpfung.«
» Arme Neve. Vielleicht solltest du deinem Pseudo-Freund vorschlagen, dass ihr mal eine Nacht getrennt verbringt, damit du deinen dringend nötigen Schönheitsschlaf kriegst.« Chloe nahm eines der Bücher aus der Chalet-School -Serie zur Hand, das auf Neves Schreibtisch lag. » Die hat mich meine Mutter früher nicht lesen lassen, weil sie angeblich so reaktionär und oberflächlich sind.«
» Das ist eine grobe Verallgemeinerung, und Max ist nicht mein Pseudo-Freund, sondern mein provisorischer Freund. Das ist etwas völlig anderes.« Neve streckte die Arme über den Kopf. » Ich schätze, es könnte nicht schaden, wenn ich mal eine Nacht allein schlafe. Am Wochenende sehe ich Max ohnehin wieder.«
Chloe hatte angefangen, in dem Buch zu blättern. » Dafür, dass er bloß ein provisorischer Freund ist, verbringt ihr aber ziemlich viel Zeit miteinander«, bemerkte sie abwesend. » Wie ist der Sex?«
» Unglaublich.« Für eine ausweichende Antwort fehlte Neve die Energie.
» Also, wenn ich einen provisorischen Freund mit einem tollen Job hätte, der mir regelmäßig einen Orgasmus beschert, dann würde ich in Erwägung ziehen, ihn zu meinem festen Freund zu machen«, sagte Chloe. » Ich meine, dieser William ist seit einer Ewigkeit weg, und im Grunde genommen ist er eine große Unbekannte. Bei Max weißt du wenigstens, was dich erwartet.«
Es war ein Dilemma, das Neve immer wieder erfolgreich verdrängte. An sich kam es ihr völlig naheliegend vor, mit Max zusammenzubleiben, bis ihr wieder einfiel, dass er ja vor Beziehungen zurückschreckte. Und auch für den Fall, dass er seine Meinung inzwischen geändert haben sollte: Sie wollte nicht den Rest ihres Lebens die Frage » Was wäre gewesen, wenn…?« in fetten Großbuchstaben über Williams Kopf schweben sehen, wann immer sie an ihn dachte.
» Schade, dass man Männer nicht einfach vorkosten kann, so wie die Aufstriche am Feinkosttresen im Supermarkt«, brummelte Neve. » Ich habe mich sechs Jahre danach gesehnt, mit William zusammenzukommen. Das ist fast ein Viertel meines Lebens. Und außerdem reißt sich Max bloß zusammen, weil er weiß, dass es nur vorübergehend ist.«
» Tja, wie es aussieht, kannst du nur verlieren. Ich hasse solche Situationen.« Das war nicht besonders hilfreich. Chloe tippte Neve mit dem Buch auf die Schulter. » Kann ich mir das ausleihen?«
» Nur zu.« Neve nickte und griff zum Telefon. » Ich rufe Max an. Wenn das so weitergeht, schlafe ich demnächst auf dem Fahrrad ein.«
Max war kein bisschen beleidigt, als Neve ihm mitteilte, dass sie die Nacht allein zu verbringen gedachte. » Gott sei Dank«, lautete seine wenig schmeichelhafte Reaktion. » Ich bin total geschlaucht. Ich habe gerade eine halbe Stunde meinen iPod gesucht. Stell dir vor, er lag im Kühlschrank.«
» Und es macht dir wirklich nichts aus?«, hakte Neve nach. Es sollte ihm etwas ausmachen. Wenn Max nicht einmal zwölf Stunden ohne sie leben konnte, dann war das vielleicht ein
Weitere Kostenlose Bücher