Was sich kusst das liebt sich
mildes Lächeln, als er eine zusammengerollte Ausgabe der Verbraucherschutz-Zeitschrift Which? Computing aus der hinteren Hosentasche zog und sie aufschlug. » Hast du was zu lesen dabei?«
Und da wusste Neve, dass alles noch beim Alten war. Wenn sie einander wie früher lesend gegenübersaßen, hieß das beileibe nicht, dass alles gut war. Es bedeutete lediglich, dass ihr Vater ihr nichts zu sagen hatte, und ihr selbst fiel auch nichts ein, worüber sie mit ihm hätte reden können. Sie kramte eines ihrer Chalet-School -Bücher aus der Tasche. Lesen für die Seele statt Essen für die Seele.
Sie hatte noch nicht einmal einen Absatz gelesen, da schnaubte ihr Vater: » Du liest immer noch diese albernen Mädchenbücher?«
» Naja, nicht immer noch, sondern wieder, aber…«
» Weißt du noch, wie Onkel George damals bei einer Entrümpelung in Lytham St Annes die komplette Sammlung gefunden hat? Fünfzig Stück…«
» Achtundfünfzig«, korrigierte ihn Neve.
» Ich bin die ganze Nacht gefahren, um den Karton zu holen, und du hast geheult wie ein Schlosshund, als du ihn am nächsten Morgen geöffnet hast«, fuhr Barry Slater fort, als fände er die Erinnerung daran nach wie vor verstörend.
» Es waren Tränen der Freude.«
» Wozu vor Freude heulen, wenn es auch so schon genügend Gründe zum Weinen gibt?« Er warf ihr einen merkwürdigen Blick zu.
Neve murmelte etwas Unverbindliches und widmete sich dann wieder ihrem Buch.
» Ich erinnere mich an Eustacia Goes to the Chalet School«, verkündete ihr Vater stolz, sodass Neve gezwungen war, erneut den Kopf zu heben.
» Wieso das denn? Hast du etwa heimlich meine Bücher gelesen, wenn ich im Bett war?«
» Unsinn«, brummte er. » Du hast mir die ganze Geschichte erzählt, als wir uns damals auf dem Weg nach Morecambe an der Raststätte abgesetzt haben. Das hat mir deine Ma übrigens bis heute nicht verziehen.«
» Celia und Douglas auch nicht, nur damit du’s weißt«, informierte sie ihn, und diesmal war ihr Lächeln nicht aufgesetzt, sondern echt, und ihr Vater grinste ebenfalls.
» Warum zum Teufel liest du diesen Schund noch einmal? Du hast doch schließlich in Oxford studiert.«
Also erklärte ihm Neve, dass sie Trost bei ihren alten Kinderbüchern gesucht hatte, als sie kürzlich im Archiv so gestresst gewesen war. Sie erzählte von der denkwürdigen Jahreshauptversammlung, und als Marco kam, um ihren Tisch abzuräumen, berichtete sie von ihrem ersten Treffen mit ihrem Agenten und dem Buch, das sie schreiben sollte.
» Ich gebe mir Mühe, deswegen nicht total auszuflippen«, schloss sie, nachdem ihr Vater einen koffeinfreien Kaffee und eine Tasse Pfefferminztee bestellt hatte.
» Du konntest schon immer gut Geschichten erzählen. Du hast Celia oft bei den Englisch-Hausaufgaben geholfen. Einmal sollte sie Romeo und Julia nacherzählen, und du hast das Stück in die zeitgenössische Atmosphäre der Coronation Street verpflanzt. Nicht, dass ihr deine Hilfe viel gebracht hätte.«
» Naja, sie hat immerhin eine Arbeit, die sie liebt.«
Ihr Vater schnaubte erneut, denn seiner Ansicht nach war ein Job in der Modebranche kein ordentlicher Job und würde es auch nie sein. » Hätte nicht gedacht, dass wir mal eine Schriftstellerin in der Familie haben würden. Deine Großmutter wäre sehr stolz auf dich, Neve.«
» Ach, ja?«, fragte Neve vorsichtig, denn ihr Vater redete nie über seine Mutter, und sie wollte den eben erst eingekehrten Frieden nicht aufs Spiel setzen.
» Sie war eine sehr intelligente Frau, aber ihr Vater, also dein Urgroßvater, fand, Bildung sei an Mädchen verschwendet. Sie hat es stets bereut, dass sie mit fünfzehn die Schule verlassen und arbeiten gehen musste, um zu Hause etwas beizusteuern.«
» Sie muss dir sehr fehlen… Ich meine, du hast sie ja schon mit achtzehn verloren. Ich habe keine Ahnung, was ich tun würde, wenn euch etwas zustoßen würde.«
Ihr Vater hob eine Augenbraue. » Du würdest schon zurechtkommen, Kleines.«
Neve holte tief Luft. » Dad, es tut mir echt leid, dass…«
» Ich bin auch stolz auf dich, auch wenn ich es nicht immer zeige. Du bist die Erste in unserer Familie, die studiert hat, noch dazu in Oxford. Ich weiß ja nicht, was genau du in dieser Bücherei treibst, aber du solltest jede Gelegenheit nutzen, die sich dir bietet. Du kannst alles schaffen, wenn du dich erst einmal dazu entschlossen hast. Und damit meine ich nicht nur diese Biografie.«
Sie war froh, dass er es dabei beließ,
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